Terraferma
Im letzten Film von Emanuele Crialese machten sich sizilianische Emigranten anfangs des 20. Jahrhunderts auf die Reise nach Amerika, in das Land ihrer Hoffnungen. In seinem neuen Film ist Terraferma – eine kleine pelagische Insel nördlich von Lampedusa – das Ziel verzweifelter afrikanischer Immigranten. Hier gehen sie von ihren untauglichen Booten an Land, hoffen auf ein offenes Land und kommen in ein verschlossenes. Laut UNHCR kamen 2011 um die 58‘000 Menschen von Nordafrika übers Mittelmeer nach Europa, 15‘000 liessen auf diesem Weg ihr Leben.
Im Mittelpunkt des spannenden und eindrücklichen Spielfilms steht die Familie Pucillo, die sich seit Generationen vom Fischfang ernährt. Grossvater Ernesto ist 70, will nicht, dass sein defektes Fischerboot verschrottet wird und verweigert sich jeder Veränderung, obwohl alle um ihn sagen, dass auf der Insel die Tage für den Fischfang gezählt seien. Seinen Sohn hat ihm das Meer entrissen, er bleibt verschollen. Dessen Sohn Filippo ist 20 Jahre alt und jongliert seine Existenz zwischen Grossvater Ernesto und Onkel Ninos «Way of Life», nach welchem das Fangen von Fischen durch das Fangen von Touristen ersetzt werden soll. Seine verwitwete Mutter Giulietta schlägt sich durch und träumt von einem besseren Leben auf dem italienischen Festland. Die Unmöglichkeit eines wirklich neuen Lebens macht sie alle zu hoffnungslosen Aussenseitern.
Der alte Fischer Ernesto: ohne Zukunft
Und in dieser an sich schon desolaten Situation haben Ernesto und Filippo nachts auf dem Meer Schwarzafrikaner aufgefischt und illegal an Land gebracht. Einige verschwanden sofort. Eine Schwangere mit ihrem neunjährigen Sohn nehmen sie zu Hause auf. Die Familie handelt nach dem Gesetz des Meeres, nach welchem jeder Mensch in Seenot gerettet wird. Jetzt aber werden sie mit einem andern, dem Gesetz des Staates konfrontiert, der dies anders sieht.
Mangel an Authentizität kann dem Film nicht vorgeworfen werden. Crialese greift in diesem Film, nach «Respiro» und «Nuovomondo», zum dritten Mal auf Filippo Pucillo als Filippo zurück: zuerst als 10-Jährigen, dann als 15- und jetzt als 20-Jährigen. In allen drei Werken verkörpert(e) er sozusagen den Prototyp des einfachen jungen Sizilianers, der weit weg von der modernen Welt zu leben scheint. Und Timnit T., die die Rolle der Immigrantin Sara spielt, kann bei ihrem Spiel aus eigenen Erfahrungen schöpfen. Die junge Frau ist selbst auf dieselbe lebensgefährliche Weise nach Italien gelangt, wie sie es im Film tut. Der Fall, der damals zahlreiche Todesopfer forderte, hat in den italienischen Medien grosse Wellen geworfen und die Flüchtlingsdiskussion neu entfacht.
Filippo: um seine Jugend und Zukunft betrogen
Das Gesetz des Meeres gegen das Gesetz des Staates
Die Familie bemüht sich, im Tourismus neue Möglichkeiten für ein Überleben zu finden. Drei junge Rucksacktouristen mieten als Erste ihre Wohnung, während die Familie in der Garage wohnt. Sie freunden sich mit Filippo an. Doch ihre Bedürfnisse für Ferien kreuzen sich mit der unerwarteten Notsituation der Gastgeber. Doch hier zeigt sich eindrücklich, wie man sich wohl bei einer solchen Tragödie verhält, wenn man sie hautnah erlebt. In ihrem Innersten kämpfte, so meine ich, auch das Gesetz des Meeres gegen das Gesetz des Staates.
Symbolisch für die Spass- und Überflussgesellschaft steht für mich das Boot, von dem Jugendliche sich kreischend und grölend ins Meer stürzen, und daneben das Boot von Filippo, auf das die Flüchtlinge nachts zu klettern versuchen, deren Hilfe suchenden Hände mit dem Ruder weggeschlagen werden. Zwei Bilder für zwei Menschenwelten! Zwei Bilder für das, was wohl als die Völkerwanderung des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen ist. «Terraferma» zeigt diese schonungslos, hoffnungslos und ohne Antwort.
Wo auf dem Erdball gibt es einen Ort für Sara?