The Breaking Ice

Ein Liebesbrief an die jungen Menschen: In Anthony Chens Film «The Breaking Ice» treffen sich im winterlichen Yanji der Städter Haofeng, die Reiseleiterin Nana und der im Familienbetrieb arbeitende Xiao. Während ihren Streifzügen durch Clubs und verschneite Landschaften tauen ihre Sehnsüchte langsam auf und es entstehen Freundschaften, hinterlassen selbst flüchtige Begegnungen Spuren – und wir erhalten Einblicke in das Lebensgefühl der Generation Z.
The Breaking Ice

Auf dem Weg zu den Chanbai-Bergen und zum Himmelssee

Zum Einstieg

Wollen wir die Höhen und Tiefen und die ganze Schönheit dieses Films verstehen und geniessen, könnten wir ihn, so mein Vorschlag, wie ein pointillistisches Bild von Seurat oder ein Landschaftsbild von Monet anschauen. Mit kleinem Abstand sehen wir in diesen Gemälden bloss Farbpunkte und verstehen nichts; in den kurzen Szenen am Anfang des Films erkennen und verstehen wir nur wenig. Mit grösserem Abstand erkennen wir im Gemälde Gegenstände und einen Zusammenhang; mehrere kurze Szenen im Film erklären sich allmählich gegenseitig und auf ein Ganzes hin.

Von Sequenz zu Sequenz werden die heiter melancholischen Porträts der drei jungen Menschen verständlich und reich in ihren Aussagen. Die entschleunigten und mäandrierend erzählten Geschichten handeln von den Beziehungen, Gefühlen und Gedanken, Sehnsüchten und Ängsten, Unsicherheiten und Hoffnungen, die sich zwischen Haofeng, Nana und Xiao sich hin und her bewegen. Gültig für die Menschen der Generation Z in China, wohl auch anderer Generationen und anderer Länder. «The Breaking Ice» ist das grosse Filmerlebnis von 1 Stunde, 35 Minuten und 59 Sekunden mit zauberhafter Poesie und Schönheit über das, was Menschen zu Menschen macht.  

Die Freiheit, in der dieser Film gemacht wurde, weckt auch unsere Befreiung von den obligaten Regeln des Fühlens und Denkens und ermutigt uns, hineinzutauchen in intime und gleichzeitig sensationelle Innenwelten. Jedes Bild, jeder Satz, jeder Schnitt des Films enthält eine Vielzahl von nachhaltigen Deutungen. Wenn wir am Schluss im Kino aus dem Film auftauchen, spüren wir, dass auch unser Leben anders, kreativer, fantastischer, verrückter sein kann als gewöhnlich.

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Xiao, Nana, Haofeng (v. l.)

Director’s Statement

 

«The Breaking Ice» entstand aus einer spontanen Eingebung heraus. Ich wollte unbedingt einen Film machen, nachdem ich während der Pandemie zwei Jahre lang zu Hause eingesperrt war und eine grosse Sinnkrise durchlebte. Als sich einige Projekte verzögerten, war ich fest entschlossen, etwas Neues anzufangen, war auf der Suche nach einem Gefühl der Identifikation als Filmemacher.

Mein Ziel war, mich von meinen alten Gewohnheiten zu befreien und mich ausserhalb meiner Komfortzone herauszufordern. So zwang ich mich, in einem mir unbekannten Land, Terrain und Klima einen Film zu drehen. Ich wollte den Geist der aktuellen Generation junger Chines:innen, über die ich viel gelesen hatte, einfangen. Das Ergebnis ist hoffentlich genauso befreiend wie der Prozess seiner Entstehung. Keinen Film habe ich in kürzerer Zeit realisiert. Es war das verrückteste Unterfangen, das ich seit Langem in Angriff genommen hatte. Es war ein wildes Abenteuer in einem kalten, eisigen Winter und für mich ein Liebesbrief an die jungen Menschen in China.

Wie gefrorene Träume auftauen

 

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Haofeng

Mit geschlossenen Augen zerbeisst Haofeng einen Eiswürfel. Das Knacken durchdringt seinen Körper, und für einen kurzen Moment scheint seine Umgebung fern. Dabei befindet sich der junge Mann auf der Hochzeitsfeier eines Klassenkameraden. Doch im Umgang mit seinen alten Freunden hält er sich zurück, am Fest nimmt er nur widerwillig teil. Haofeng, der in Shanghai im Finanzbereich arbeitet, wirkt abwesend und verloren, und die Anrufe einer psychiatrischen Beratungsstelle blockt er ab.

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Nana

Seine Zeit in Yanji im Nordosten Chinas nutzt Haofeng für einen Ausflug, bei dem er auf die gleichaltrige Reiseleiterin Nana trifft, die das chinesische Publikum durch die Grenzstadt fährt, um ihnen koreanische Traditionen näherzubringen. So bereitwillig sie für ihre Gäste ein Lächeln aufsetzt, so rasch verschwindet dieses wieder. Sie hat ihre Heimat verlassen, ist nach Yanji gezogen, um einen schweren Schicksalsschlag hinter sich zu lassen, und wirkt ähnlich orientierungslos wie Haofeng,  mit dem sie schliesslich ins Gespräch kommt.

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Xiao

Die Tour endet in einem koreanischen Restaurant, das die Familie von Xiao betreibt. Der gutmütige, aber frustrierte Schulabbrecher hilft seiner Tante im Lokal aus und buhlt um Nanas Zuneigung. Sie aber hat andere Pläne als eine Verabredung in Zweisamkeit und lädt Haofeng ein, den Abend mit ihr und Xiao zu verbringen. Letzterer reagiert anfangs genervt, überwindet seine Vorbehalte doch bald.

Bereits nach kurzer Zeit stellt sich in der Gruppe eine gewisse Vertrautheit ein. Als Haofeng am nächsten Tag seinen Rückflug nach Shanghai verpasst, ermutigen ihn die beiden,

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Xiao, Nana, Haofeng (v. l.)

Aus einem Interview mit Anthony Chen

trigon-Magazin, Nr. 99, integral im Anhang

Eis spielt eine wichtige Rolle im Film. Was hat Sie dazu bewogen, eine Geschichte in dieser frostigen Umgebung anzusiedeln? Wenn ich an Winter denke, kommt mir nicht nur Schnee, sondern auch Eis in den Sinn. Für mich hat es etwas Faszinierendes, dass Wasser bei niedriger Temperatur zu Eis erstarrt und wieder zu Wasser schmilzt, wenn Wärme ins Spiel kommen. Davon hat mich irgendetwas angezogen. Ohne die geringste Ahnung, was für eine Geschichte ich schreiben werde, wusste ich, dass ich das Gefühl einfangen wollte von drei jungen Menschen, die in kurzer Zeit zusammenfinden, eine Beziehung entwickeln, am Ende wieder auseinander gehen und von jedem etwas mitnehmen, das sie für immer verändert.

Die drei Protagonist:innen sind fremd in Yanji. In welchem Zusammenhang steht das mit Ihrer Position als Ausländer in China? Es wird immer deutlicher, was ich auch mache, bestimmte Themen kehren immer wieder. Seltsamerweise scheinen alle meine Filme von Aussenseiter:innen oder Ausländer:innen und den komplexen und intimen Bindungen zwischen Fremden zu handeln. Im Film «Ilo Ilo» ging es um die Beziehung zwischen einer philippinischen Haushälterin und einem 10-jährigen Kind, in «Wet Season» um eine chinesischsprachige Lehrerin aus Malaysia und ihren 16-jährigen Schüler und in «Drift» um einen afrikanischen Flüchtling und einen amerikanischen Reiseleiter. Ich fühle mich in meiner Aussenseiter- oder Ausländer-Identität ganz wohl, sie hat mich von Ballast befreit. In Dingen, die Einheimische banal oder alltäglich finden, entdecke ich Poesie und Schönheit.

Interview mit Anthony Chen

Regie: Anthony Chen, Produktion: 2023, Länge: 97 min, Verleih: trigon-film