The Farewell
Das etwas spezielle Fotoshooting vor der Hochzeit
«Basierend auf einer wahren Lüge», steht am Anfang von Lulu Wangs Film «The Farewell». Die in China geborene, in ihrer Kindheit mit den Eltern in die USA emigrierte Filmemacherin erzählt in ihrem zweiten Spielfilm die persönliche Geschichte ihrer grossen Liebe zur Grossmutter und einer entscheidenden Lüge – mit Humor und Herz und überzeugenden Darstellerinnen und Darstellern, einem klugen Einsatz der Kamera von Anna Franquesa Solano und der Musik von Alex Weston.
In der Radiosendung «The American Life» erzählte Wang vor Jahren das erste Mal die Geschichte, wie ihre Familie die Mutter respektive Grossmutter belog und ihr verschwieg, dass sie laut den Ärzten bald sterben werde. Anschliessend entwickelte sie die persönliche Geschichte weiter zu ihrem zweiten Spielfilm eines besonderen, bedeutungsvollen Abschieds, grösstenteils in der Heimat ihrer Grossmutter innerhalb von drei Wochen gedreht.
In der Mitte Billi und Nai Nai, links davon das junge Paar, eingerahmt von den Eltern
Die grosse Lüge
Mit kleinen Lügen beginnt es bereits in der Auftaktsequenz, als die Mittzwanzigerin Billi Wang, gespielt von der Rapperin und Comedian Awkwafina in ihrer ersten grossen Rolle, und ihre Grossmutter Nai Nai, mitreissend verkörpert von Zhao Shuzhen, sich am Telefon miteinander unterhalten. Ob sie an diesem kalten Tag eine Mütze trage, fragt Nai Nai. Ja, gewiss doch, versichert Billi, während sie ohne Kopfbedeckung durch die Strassen New Yorks streift. Wo sie gerade sei, fragt Billi. Bei ihrer Schwester, antwortet Nai Nai, die gerade im Warteraum eines Krankenhauses sitzt.
Bald schon folgt die grosse Lüge, die im Zentrum der Handlung steht: Die Grossmutter ist an Krebs erkrankt und wird voraussichtlich in wenigen Wochen sterben; die Familie will der Matriarchin ihren gesundheitlichen Zustand jedoch verheimlichen, um ihr Angst und Leid zu ersparen, was bei den Chinesen zu ihrem kulturellen Selbstverständnis gehört. Daher wird als Vorwand, um als Grossfamilie rasch zusammenkommen zu können, kurzerhand eine Hochzeit für Billis Cousin organisiert, obwohl dieser seine japanische Freundin erst seit ein paar Monaten kennt.
Enkelin und Grossmutter beim Quigong
Mit leisem Wahnsinn
Wer traurige, emotional aufwühlende Momente filmisch in Szene setzen will, wählt dafür als Schauplatz wahrscheinlich einen tristen Ort. In Lulu Wangs Film findet einer der eindrücklichsten Monologe, in dem es um Verlust und Trauer geht, hingegen in einem Raum voller rosa- und lilafarbener Luftballone statt. Dies verleiht der Geschichte jedoch nichts Kitschiges, sondern gibt ihr eine Tranche Herzenswärme und die nötige Portion Absurdität, die dem Leben ja oft innewohnt.
«The Farewell» steckt voller gelungener Details, wofür die Haupt- und Nebenfiguren liebevoll gezeichnet, ihre Interaktionen skurril und anrührend sind. Wie es sich für einen Familienfilm gehört, wird darin sehr ausgiebig gegessen, und immer wieder kommt es dabei zu Augenblicken, in denen sich kleine, alltägliche Misstöne einschleichen, die leise verunsichern oder zum Lächeln reizen. Beim Fotoshooting des jungen Hochzeitspaares etwa, einige Tage vor der Zeremonie, platzt plötzlich ein anderes heiratswilliges Paar in den Raum, verschwindet aber schnurstracks und kichernd wieder: ein kurzer Moment, witzig und glaubwürdig zugleich, der den leisen Wahnsinn des Lebens einfängt, wie er hinter dem normalen Alltag oft lauern kann.
Das grosse Familienessen, links die Schwester von Nai Nai
Was eine Lüge bewirken kann
Billis Muttersprache Mandarin ist nach Jahren im neuen Land nicht mehr perfekt, und viele chinesische Sitten und Bräuche sind ihr recht fremd. Ein Teil der Familie, neben jenem in Amerika und China, lebt seit langer Zeit in Japan. Nun treffen alle in Changchun ein, um unter dem Deckmantel einer pompösen Feier Abschied zu nehmen von Nai Nai. Doch Billi zweifelt daran, ob diese Vorgehensweise wirklich richtig ist, ob Nai Nai nicht einfach die Wahrheit erfahren sollte. Dass die ganze Familie, mit ihren verschiedenen Lebensentwürfen und Lebenserfahrungen, mit dieser Lüge andere Wahrheiten, so über die Bindungen zwischen Familien, Ländern, Ost und West sowie deren Kulturen, erfahren, ist eines der Verdienste dieses, im besten Sinn des Wortes, unterhaltsamen Filmes.
«The Farewell» hat seine Höhepunkte in kleinen, fast beiläufigen Momenten. So in der Qigong-Lektion der Enkelin und Grossmutter. Oder in der Szene, in der die versammelte Familie den verstorbenen Grossvater auf dem Friedhof besucht. Mit vielen frischen Opfergaben und zahlreichen Verbeugungen könnte die Situation leicht ins Komödiantische kippen, doch weil niemand hinsieht, zeigt Billi offen ihre tiefe Trauer, lässt uns die Szene an den Tod von uns allen erinnern. Später erklärt sie in einem Monolog, wie sie den Tod des Grossvaters verpasst habe, sich nicht von ihm verabschieden konnte – aus genau den gleichen Gründen, weswegen die Familie jetzt Nai Nai belügt. Womit der Film einen seiner schönen, leichten Salto mortale schlägt.