The Outrun
Rona
Schnitt um Schnitt
Schon nach den ersten Filmminuten wird klar: Auch in ihrem dritten Film erzählt Nora Fingscheidt ihre Geschichte voller Wucht und Verve und verschmelzt einfühlsame Beobachtungen der rauen Landschaft mit sensiblen Reflexionen der komplexen Logik und Psychologik der Protagonistin. Zum Beginn sehen wir Rona als kleines Mädchen, das am matschigen Strand entlangläuft, gefolgt von Unterwasseraufnahmen und einem surreal anmutenden Tanz auf dem Meeresgrund, während sie via Voiceover von Seehunden und Menschen erzählt. Schnitt: Wir stürzen in die harte Wirklichkeit einer Londoner Bar, aus der die junge Frau, stockbetrunken, vom Barkeeper hinausgeworfen wird. Schnitt: Sie hütet mit ihrem Vater Tiere und spricht später mit ihrer Mutter. Es dauert eine Zeit, bis wir uns nur schon fragmentarisch über Ronas Leben zu orientieren vermögen. Zeiten und Räume, Menschen und Tiere, Landschaften und Innenräume werden wild durcheinandergewirbelt und reissen uns mit ins Leben einer «Ausbrecherin», auf die der Titel verweist.
Mit Vater Andrew
Einstieg
Bald schon gibt man auch die spontane Vermutung auf, dass es sich hier um einen üblichen Thesenfilm über Alkoholismus handelt. Zu viel Verschiedenes kommt der Geschichte in die Quere und jagt einen zwei Stunden lang durch den Film. «The Outrun» besteht aus grösseren Episoden und kleineren Flashes, die sich zum Porträt einer komplexen Person und einer ebenso komplexen Welt vereinen. Beides verlangt unser Mittun, indem wir die einzelnen Teile miteinander in Beziehung setzen, damit einen Dialog beginnen und uns so die «persönliche Geologie» und die «universelle Psychologie» dieses Filmes erahnen lassen.
Mit Freud Danynin
Wie es zum Film kam
«The Outrun» basiert auf dem autobiografischen Roman «Nachtlichter» von Amy Liptrot, die auch beim Drehbuch mitgearbeitet hatte. Die Regisseurin Nora Fingscheidt, bekannt durch ihren vielfach ausgezeichneten Erstling «Systemsprenger» (https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/pqrs/systemsprenger) und zuvor ihren Abschlussfilm «Ohne diese Welt» (https://der-andere-film.ch/filme/filme/titel/mno/ohne-diese-welt), schuf mit «The Outrun» ihren dritten, ihren herausforderndsten Film. Die Bilder stammen von Roy Imer, der die symbolische Epik der Landschaften und die sinnliche Dramatik des Porträts der radikalen Persönlichkeit einfängt. Für den Schnitt ist Stephan Behinger verantwortlich, der mal ruhig und reduziert, mal schnell und gewaltsam die extreme psychische Bandbreite von Rona rhythmisiert. Saoirse Ronan nimmt uns mit auf eine abenteuerliche Reise zwischen Hoffnung und Verzweiflung und dominiert während der ganzen Filmlänge mühelos mit ihrer Präsenz. Abgerundet wird das Werk mit der Musik von John Gürtler und Jan Miserre, die von den Klängen der Natur, dem Wind und den Wellen inspiriert sind und mit der elektronischen Musik Londons kontrastieren. Für den Auftritt der betrunkenen Protagonistin wurde der Choreograf Wayne McGregor engagiert.
Mehr zur Entstehung und zu den Hintergründen des Films bringt das «Interview mit Nora Fingscheidt, Saoirse Ronan und Amy Liptrot» im Anhang.
Sitzung bei den AA
Drei Ebenen
Der Film erzählt seine Geschichte auf drei Ebenen, die miteinander verwoben sind: der ersten, die Orkney-Ebene mit Ronas Hier und Jetzt. Sie ist mit ihren getrennt lebenden Eltern auf der schottischen Insel Orkney Mainland gestrandet, nüchtern zwar, doch einsam und ohne Pläne. Als sie alle Hoffnung aufgibt, sucht sie die Isolation im winzigen Vogelwärterhaus «Rose Cottage» auf der abgelegenen Insel Papa, wo sie sich mit den Geistern ihrer Vergangenheit auseinandersetzen kann. An diesem Ort verbrachte schon Amy zwei Winter für die Niederschrift der «Nachtlichter»
Es folgt eine zweite, die London-Ebene. Diese erzählt in farbenfrohen und traumhaften Erinnerungen von ihrer glücklichsten Zeit, als sie Daynin liebte und frei war. Aber sie spült auch verzerrte und verstörende Erinnerungen an die exzessive Gewalt und schliesslich die Härte, die sie in der Rehabilitationsgruppe erfährt. Anfangs stehen die Bilder aus London in einem warmen und leuchtenden Kontrast zur Kälte und dem Blau von den Orkneys.
Die dritte Ebene ist eine geistige. Sie bietet intensive Einblicke in Ronas Kopf und ihre Wahrnehmung der Welt. Wir hören und sehen ihre Gedanken und Beobachtungen. Dabei vermischen sich Kindheitserinnerungen und wissenschaftliche Forschung, bei denen formal und stilistisch experimentiert wird, Dokumentaraufnahmen und Animationen verwendet werden, um ihre Kreativität und ihr Wissen zu erleben.
Der Dreh wurde den Anforderungen der Natur angepasst: Sie drehten, wenn Lämmer geboren wurden, Vögel nisteten und Robben ankamen. Am Ende, als alles zusammengefügt war und Rona ihre Geschichte selbst in die Hand genommen hatte, gab sie sich der Energie der Natur hin. In brodelnder Nüchternheit, zwischen massiven Felsen und heftigen Wellen, bricht sie die Gesetze von Zeit und Raum und wird eins mit der Welt um sich. Die Extreme machen sie zu dem, was in zwei Zeilen in Amys Buch steht: «Der Rand ist das, wo ich herkomme, er ist mein Zuhause.»
Zwischen Himmel und Erde
Auf der Suche nach Bedeutungen
Nach Bedeutungen suchen in diesem hoch emotionalen Film ist weniger eine intellektuelle als vielmehr eine emotionale Sache: Wir versuchen, mit unseren Emotionen den Emotionen des Filmes zu folgen. Es ist vielleicht der grosse, starke Film über einen der schwierigsten Prozesse des Lebens: den Versuch, sich selbst zu verzeihen, das Scheitern in der Vergangenheit zu akzeptieren und dem, was kommt, eine Chance zu geben.
Rona zeigt sich auch als Natur-Nerd der Historie und der Mythen der Inseln, der Algenzucht und der Wachteln, aber auch der Klimaerwärmung und der Umweltverschmutzung. «The Outrun» ist als Ganzes nicht bloss in einer Menschenseele verankert, sondern auch in der globalen Weltseele. Diese doppelte Eingebundenheit und Eingespanntheit erhöht den Film über das Psychodrama hinaus zum Welttheater.
Und im Lauf der Handlung spürt man, anfangs leise, dann laut und lauter, eine unerbittlich drängende Sehnsucht nach Heil und Heilung. Wie es Rona nicht nur gelingt, nüchtern zu bleiben, sondern sogar die Nüchternheit zu geniessen, so gilt es auch für die im Film gezeigt Welt in ihrer ganzen Komplexität, und so wird «The Outrun» auch eine Ode der Hoffnung auf eine glücklichere Welt.
Interview mit Nora Fingscheidt, Saoirse Ronan und Amy Liptrot