Tótem

Eine Liebeserklärung an das Leben: Die mexikanische Regisseurin Lila Avilés schuf mit ihrem zweiten Spielfilm «Tótem» ein herzerwärmendes und tief menschliches Grossfamilienporträt, in dem sich Leben und Tod auf grossartige Weise begegnen. Ab 7. Dezember im Kino
Tótem

Sol sinniert über den zu Ende gehenden Tag

Es dauert eine Zeit, bis wir uns etwas auskennen in dem grossen Haus mit Garten und bei den zahlreichen jungen, mittelalterlichen und alten Menschen, die sich hier zum grossen Geburtstagsfest von Tona (Mateo Garcia Elizondo) einfinden, während der junge Mann, für den das Fest bestimmt ist, vom Krebs ausgemergelt,  in seinem Zimmer abgeschottet auf seine wohl letzte Party wartet. Nur Cruz (Teresita Sánchez) darf zu ihm, denn sie pflegt ihn, während seine siebenjährige Tochter Sol (Naima Senties) den ganzen Tag ungeduldig auf ihren Papa warten muss.

Als «Tótem» bezeichnen Naturvölker ein pflanzliches oder tierisches Wesen, das eine Familie repräsentiert und schützt, sie in eine alles und alle verbindende Spannung hüllt – und das sich in alltäglicher Unmittelbarkeit gegen Verlöschen und Vergänglichkeit sperrt, wie uns die mexikanische Regisseurin Lila Avilés in ihrem zweiten Spielfilm in einem bunten Reigen mit familialer Kraft und emotionaler Geborgenheit vorführt.

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Cruz betreut den totkranken Tona

Einkäufe werden getätigt, Kuchen gebacken, böse Geister aus dem Haus vertrieben, es wird heimlich Wein getrunken, gestritten und geliebt, Kinder spielen, die Gäste verköstigen sich und beginnen mit Feiern. Wir kennen wahrscheinlich alle dieses Gefühl, nicht genug Zeit zu haben für die wichtigen Dinge, die im Leben anstehen und einen herausfordern. Diese Atemlosigkeit fängt der Film ein, mit der rastlosen Handkamera von Diego Tenorio, einigen musikalischen Akzenten von Thomas Becka, einer alles verbindenden Montage von Omar Guzman, und schafft im klassischen 4:3-Format ein Gesamtkunstwerk im Stile des lateinamerikanisch magischen Realismus.

Noch hastig die Clown-Perücke zurechtgerückt, die rote Nase aufgesetzt und dann ist auch die siebenjährige Sol bereit für den Geburtstag ihres Papas, der heute im Haus eines ruhigen Quartiers von Mexico-City gefeiert werden soll. «Ich wünsche, Papa müsste nicht sterben», sagt Sol  ihrer Mutter Lucia vor der Ankunft im Haus. Denn eine grosse Melancholie lastet auf ihren noch kleinen Schultern: Wie soll sie nur mit dieser Situation umgehen? Was wird sie noch alles erleben an diesem Tag? Erwartet werden Bekannte und Verwandte, Freundinnen und Freunde von Tona, was er alles nicht mitbekommt im abgedunkelten Zimmer, in dem auch seine Mutter vor einiger Zeit verstorben ist.

Die Schnecken, die Sol im Haus und Garten beobachtet und in ihr Spiel einbezieht, bekommen als Metaphern eine doppelte Bedeutung: für den Vater, der erst gegen Abend langsam den Kopf aus dem Schneckenhaus des Krankenzimmers strecken wird, und für das Töchterchen, das sich vom Trubel der andern fernhält und in sein Schneckenhaus verkriecht. Chemo oder Morphium? Von solchen Therapien sprechen Tanten Nuri und Alejandra verklausuliert, um das Kind nicht zu erschrecken. Erstere hält sich zurück, als ihr der Kuchen für den Bruder anbrennt und betrinkt sich anschliessend bis zur Erschöpfung, während ihre Schwester, den finanziellen Engpässen zum Trotz, alles nur Erdenkliche für diesen Abend auf die Beine stellt. Immer wieder fragt Sol nach dem Vater, will nichts anderes als bei ihrem Papa sein. Aber sie darf nicht zu ihm, die Tanten erklären ihr, er müsse sich ausruhen, damit er am Abend das Geburtstagsfest noch durchstehen könne.

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Sol hilft Tante Cruz

Während Grossvater Robert, ein schrulliger und mürrischer Psychoanalytiker, am liebsten nur seinen Bonsai pflegt, und Onkel Napo zu spät ankommt, dafür mit Biogemüse für Tona und einem Goldfisch für Sol, kämpft Tante Nuri (Monserrrat Maranon) mit dem Backen und dem Trinken. Meisterhaft verflechtet Avilés die vielen Figuren, Handlungen und Rituale in einem sinnlichen Naturalismus, angereichert mit Tiersymbolik, in der eine Katze, ein Hund, ein Papagei, Käfer, eine Gottesanbeterin und immer wieder Schnecken die menschlichen Melodramen ergänzen. Berührend und zum Nachdenken anregend fängt die Cineastin jene Gefühle an der Grenze des Lebens ein, während die Angehörigen und der Todgeweihte funktionieren, weil das Unausweichliche naht, wir aber mit der Trauer zu kämpfen haben.

«Manchmal kann man Dinge, die man liebt, nicht sehen. Aber sie sind trotzdem bei dir.» Damit erklärt Tona der kleinen Sol seinen und ihren Zustand. Wie wahr ist dieser Satz doch gerade hier, wenn sich Tod und Leben zu einer geheimnisvollen und tröstlichen neuen Einheit verbinden. Der Film erzählt das nicht, sondern lässt uns wie beiläufig und zufällig, feinsinnig orchestriert und ästhetisch choreographiert, die seelischen und körperlichen Zustände und Befindlichkeiten der Menschen der Festgesellschaft erfahren. Mit kleinen Gesten, kurzen Blicken, Sätzen aus dem Hintergrund oder im Vordergrund erschliessen sich die Verästelungen der Beziehungen und Konflikte innerhalb der versammelten Grossfamilie.

Tante Alejandra hat alle Hände voll zu tun, muss sich noch ihre Haare färben, ihre pubertierenden Sprösslinge zum Aufräumen zwingen. Dazu durchdringen sich kleine und kleinste Geschichten, Fragmente grösserer Erzählungen in diesem Film aus dem Mexiko der Güeritos, der Menschen mit weisser Hautfarbe, guter Bildung, der oberen Mittelschicht zugehörig, wo man sich aufgeschlossen und modern, kreativ-intellektuell gibt und scheinbar gut lebt, obwohl ständig das Geld fehlt.

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Nuri am Ende ihrer Kräfte

Sol hat ihre Augen und Ohren weit offen an diesem Tag, der für sie wie eine Ewigkeit dauert und in dem für sie sich alles zusammenfügt, Menschen, Pflanzen und Tiere, wo das Leben und der Tod sich nähern und sich eine neue Einheit zu bilden beginnt. Sol beobachtet ruhig und scharf, hört genau hin, was im Haus vor sich geht, was die Erwachsenen tun und reden, vor allem, wie sie reden und miteinander umgehen, bis sie am Abend endlich in die Arme ihres Vaters fallen darf. Und dennoch fragt die kindliche Seele: «Wann wird die Welt enden?» und bleibt dahinter die quälende Frage, «ob Papa sterben wird».

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Sol erlebt Tonas Party

Ein Mikrokosmos im Makrokosmos

Wie der Regenbogen die Berge und Täler umspannt, umspannt «Tótem» das Menschenleben mit seinen Höhen und Tiefen und alles übrige Leben. – Lila Avilés:

  • «Tótem» spricht verschiedene Dinge an. Für mich ist es immer sehr emotional, wenn die Leute etwas mitnehmen, das mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat, so Assoziationen mit ihrer eigenen Familie oder einem Freund.
  • Das ist die Stärke der Kunst, Barrieren zu überwinden, die wir errichten haben, und andere in unser Innenleben, in unser «inneres Zuhause» einladen.
  • Leben und Tod sind eine Dualität, wie Weisheit und Unwissenheit, Innen und Aussen, Tag und Nacht, Sonne und Mond, Licht und Dunkelheit, Yin und Yang.
  • In «Tótem» geht es um viele Dinge. Ich mag Filme, die mehrdeutig sind, offen für verschiedene Interpretationen. Aber vor allem denke ich, dass er sich um das Leben dreht. So einfach ist das.

Soweit einige Gründe, dass «Tótem» nicht nur «Eine Liebeserklärung an das Leben ist», sondern «Meine Liebeserklärung an das Leben».


Regie: Lila Avilés, Produktion: 2023, Länge: 95 min, Verleih: trigon-film