Tokyo Family

Vom Geheimnis der Elternschaft: Das Familienporträt «Tokyo monogatari» von Yasujiro Ozu kommt als Remake mit dem Titel «Tokyo Family» von Yoji Yamada ins Kino. Ein Meisterwerk!

 

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Vorne v. l. n. r.: Shoji, der jüngste Sohn, Tomiko und Shukichi Hirayama, die Eltern, Noriko, die Freundin von Shoji
Hinten v. l. n. r: Kurazo, der Mann der älteren Tochter Shigeku, Fumiko, die jüngere Tochter, und ihr Mann Koichi

Der japanische Regisseur Yoji Yamada verbeugt sich mit dem Remake «Tokyo Family» vor seinem Vorbild Yasujiro Ozu, der das Meisterwerk «Tokyo monogatari» gedreht hat. Er holt die Geschichte des alten Ehepaares Shukichi und Tomiko Hirayama aus den Fünfzigerjahren ins heutige Japan. Noch einmal möchten die beiden Eltern ihr beschauliches Leben in der Provinz verlassen, um ihre Kinder und Enkel in Tokyo zu besuchen. Doch beide müssen – im alten und im neuen Film – erleben, dass weder der älteste Sohn Koichi, ein Arzt, noch die älteste Tochter Shigeko, die einen Schönheitssalon betreibt, Zeit für sie haben. Der jüngste Sohn Shoji schert aus und geht seine eigenen Wege. Sie sind zu beschäftigt mit ihren alltäglichen Arbeiten und Sorgen. In der hektischen Grossstadt ist das alte Paar einsam und verloren.

Hommage an den Meister

Die Premiere von Ozus Film aus dem Jahre 1953 jährte sich 2013 zum sechzigsten, Ozus Todestag zum fünfzigsten und sein Geburtstag zum hundertzehnten Mal. Yamada, Ozus damaliger Assistent, übernimmt in «Tokyo Story» des Meisters ruhigen, besinnlichen und eindringlichen Blick auf eine Familie, deren Geschichte eines Generationenkonfliktes nichts an Aktualität verloren hat. Auch im neuen Film kommen sich die Generationen nicht näher. Die Jüngeren müssen sich in einer immer unübersichtlicheren Welt zurechtfinden, die Alten darin einen Platz suchen oder als überflüssig resignieren.

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Die alten Eltern im Bahnhof

Yamada macht gegenüber «Tokyo monogatari» einige entscheidende Änderungen. Bei Ozu zeigt die im Krieg verwitwete Schwiegertochter Noriko als Einzige Anteilnahme am Schicksal der Eltern; bei Yamada lebt der Sohn noch und übernimmt, zusammen mit seiner Freundin, am Schluss diese Rolle. Der alte Film handelt nach dem Zweiten Weltkrieg, das Remake nach dem Tsunami vom 11. März 2011 und dem atomaren Gau in Fukushima. In der Zusammenschau werden die unterschiedlichen Handschriften deutlich. Ozu ist konzentriert, kadriert seine Stillleben rigide; Yamada lässt den Hintergrund geschäftig und gelegentlich humorvoll erscheinen. Ozus Einverständnis mit der grausamen und traurigen Welt ist melancholisch; Yamada räumt der Zuversicht dezent einen Platz ein. Beide Filme erzählen die Geschichte mit Wehmut, die in jeder Generation aktuell, die herzzerreissend und tröstlich ist.

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Mutter Tomiko mit der Freundin des jüngsten Sohnes

Kleinräumig im Alltag, grossflächig in der Sinnfülle

Das neue Elternpaar Shukichi und Tomiko Hirayama lebt im Japan der Hochgeschwindigkeitszüge, der Handys und GPS. Ihr Besuch bei den Jungen in Tokyo wirkt am Schluss wie ein unbewusster Abschied. Yamada, dessen frühere Filme die Liebe und Hingabe zum Thema hatten, blieb sich auch in dieser Hommage treu. Die Zeit der Menschen ist noch knapper, die Hektik in der Arbeitswelt noch zermürbender. War Shoji, der jüngste Sohn, 1953 bei Ozu im Weltkrieg umgekommen, ist er 2013 der Aussenseiter, doch zusammen mit seiner Freundin Noriko, die er bei einem Hilfseinsatz nach dem Tsunami kennengelernt hat, die Person, die hoffnungsvoll in die Zukunft weist. Die beiden kümmern sich nach dem Tode der Mutter um den Grossvater. Dafür erhält Noriko vom Vater die kostbare Uhr der Mutter als Dank für die ihnen geschenkte Zeit. So kleinräumig die Geschichte im Alltag scheint, so grossflächig erweist sich ihre Sinnfülle.

Die Familie als Kern der Gesellschaft

Wie Hirokazu Kore-eda, ein anderer Grosser des heutigen japanischen Kinos, in seinem Film «Like Father Like Son» die Familie als Kern und Angelpunkt der Gesellschaft sieht, so sehen es auch Ozu und Yamada. Die Familie, das Eltern- und Kind-Sein, die Geburt und das Sterben, das Werden und Vergehen sind die Themen dieser Geschichte, sind Orte der Sinnfindung, vielleicht letztlich auch eines ungelösten Geheimnisses. Manchmal lohnt es sich, wie hier, grosse Geschichten aus fernen Zeiten und fremden Ländern in unsere Zeit und unser Land zu versetzen, um das Selbstverständliche wirklich verständlich werden zu lasse. Am tiefsten dargestellt in der Rolle der Mutter, die Leben spendet, indem sie Kinder geboren hat, aber auch, indem sie ihnen immer wieder neu Leben einhaucht. Sie sieht überall das Gute und erschafft es mit ihrem Blick stets aufs Neue. Aber auch die Rolle des Vaters weist am Schluss, geprägt durch die Berufsarbeit und Arbeitswelt, in diese Richtung, indem er zwar erst unter Alkoholeinfluss sich öffnen kann und die anderen wahrnimmt. Zwei wunderbare Szenen (im Film etwa in der neunzigsten Minute): Die Mutter übernachtet bei ihrem Sohn und kommt ihm als Erwachsenem erstmals nahe. Und am Morgen erteilt sie seiner Freundin und indirekt auch ihm sozusagen den mütterlichen Segen für die Heirat, viel später erst gefolgt von Vaters versöhnlichem Ja zum Sohn.

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Shoji und seine Freundin Noriko

Von der Menschlichkeit erzählen

Bei Yamada und bei Ozu gibt es keine dramatischen Zuspitzungen, keine Action, sondern scharf und gleichzeitig zärtlich beobachtete Alltäglichkeit, das Leben an sich, welches das Geschehen als Geheimnis offenlegt. In «Tokyo Family» hat man das Gefühl, dem Leben mit all seiner Schönheit und Tragik hautnah gegenüber zu stehen, ihm zu begegnen. Yamada sagt mit seinem Remake, dass sich im Wesentlichen nichts geändert hat. Wo ein Herz sein sollte, ist weiter Höflichkeit, wo Fürsorglichkeit vorgespielt wird, dominiert der Egoismus, wo die Etikette zelebriert wird, entsteht Entfremdung. Mutter Tomiko und Freundin Noriko brechen als Erste in voller menschlicher Grösse die unmenschlichen Normen.

Der Schluss heisst bei Ozu: So ist das Leben! Bei Yamada: Es beginnt etwas Neues! Erst nach seelischen Erschütterungen gibt auch der Vater zu verstehen, dass er jetzt den lange verschmähten Jüngsten mit neuen Augen sieht. Bei Ozu geht der letzte Blick vom einsamen Vater auf das Meer hinaus, wo die Schiffe künftig ohne ihn fahren werden. Bei Yamada sehen wir das junge Paar auf der Fähre. Reisen von und nach Tokyo wird es weiter geben. Ozus künstlerisches Credo, dem sich Yamada wohl anschliessen kann, lautet: «Wovon möchte ich mit einer Figur erzählen? Nun, in einem einzigen Wort: von der Menschlichkeit. Wenn ihr es nicht schafft, von der Menschlichkeit zu erzählen, ist eure Arbeit wertlos. Sie ist das Ziel jeglicher Kunst.»

Gegen Ende des Films gesteht der Vater Noriko tief bewegt: «Sie sind wirklich ein guter Mensch (…) Bitte passen Sie auf meinen Sohn auf». Und damit beginnt für alle ein neues Leben. Vielleicht ist es die Botschaft dieses grossen Films – vergleichbar mit dem Symbol der sich verbrennenden Kerze –, dass die eigentliche Aufgabe der Eltern ist, Kinder zu zeugen und zu gebären und immer wieder neues Leben zu schaffen, weiterzugeben – und dabei selbst zu verbrennen.

Regie: Yoji Jamada
Produktionsjahr: 2013
Länge:  146 min
Verleih: Trigon-Film