Toni Erdmann

Eine spezielle Vater-Tochter-Story: Ein Vater will seine Tochter aus ihrem Managerleben herauslocken. Maren Ades Generationen- und Gesellschafts-Komödie «Toni Erdmann» ist unterhaltsam und witzig, gleichzeitig menschlich und gesellschaftlich hintergründig.
Toni Erdmann

Ines, erschrocken von einem «Kukeri»

Winfried ist ein 65-jähriger gutmütigen Musiklehrer mit Hang zu Scherzen, seine Tochter Ines als ehrgeizige Karrierefrau dessen pures Gegenteil. Er lehnt den Kapitalismus ab, sie lebt davon. Nachdem der Vater bei einem Geburtstagsfest in Deutschland merkt, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben, taucht er unangekündigt und in alten Jeans in der Lobby ihrer Firma in Bukarest auf. Hier bemüht sich die Tochter um gute Miene zum bösen Spiel, schleppt ihn zu Empfängen mit und lässt ihn bei sich wohnen. Wegen seiner schrägen Witze, der unterschwelligen Kritik und Fragen wie «Bist du glücklich? Bist du überhaupt ein Mensch?» wird es zwischen ihnen schwierig. Statt abzureisen, verwandelt sich Winfried in Toni Erdmann, ein mutiges Alter Ego, mit Scherzgebiss und Perücke, gibt sich als Lebensberater von Ines' Chef und als deutscher Botschafter aus und bringt die Gesellschaft in peinlich Situationen. Doch je mehr die verschiedenen Lebensauffassungen aufeinanderprallen, Vater und Tochter sich streiten und «ihre Wertsysteme ins Stocken kommen», so Ade, umso näher kommen sich die beiden.

Mit «Toni Erdmann» ist der deutschen Regisseurin und Drehbuchautorin Maren Ade − nach «Der Wald vor lauter Bäumen» und «Alle anderen» – eine zeitgemässe, kluge und sensible Vater-Tochter-Tragikomödie und gleichzeitig eine witzige und hinterhältige Gesellschaftskritik gelungen. Die für ihre Theater- und Filmrollen vielfach ausgezeichnete Sandra Hüller brilliert als Business-Frau Ines in einer Männer-Domäne. Der Burgschauspieler Peter Simonischek kämpft als Hippie-Vater und als Toni Erdmann um die Werte, die er der Tochter einst vermitteln wollte. Ein realitätsnaher Film voll absurder Momente und Situationskomik. Zum Schmunzeln und Nachdenken! Am Filmfestival in Cannes hat er Begeisterungsstürme ausgelöst und den Preis der internationalen Filmkritik geholt.

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Vater Winfried und Tochter Ines

Warum es in Cannes wohl zu den Begeisterungsstürmen kam

Vom Inhalt des Films möchte ich nicht mehr erzählen, um die Überraschungen nicht zu verraten. Mit Humor mäandert der Film, rhythmisch geschickt montiert, bildlich und akustisch präzise komponiert, über seine ganze Länge. «Toni Erdmann» schildert den Zusammenprall zweier Welten: des etwas verschrobenen, liebenswürdigen Alt-68ers und der Beraterin einer Ölfirma, die Arbeiter wegrationalisieren soll. Gleichzeitig beschreibt er exemplarisch eine Vater-Tochter-Beziehung. Die Regisseurin liess beim Dreh die Protagonisten ihre Szenen durchspielen und erhielt so 120 Stunden Filmmaterial, das sie auf 162 Minuten verdichtete. Der Kameramann Patrick Orth liess das Set fast immer 180 Grad ausleuchten, um Unvorhergesehenes und Spontanes der Akteure einfangen zu können.

Die Qualität des Films über die Kleinbürgerlichkeit einer Durchschnittsfamilie basiert auf Witz und Ernst, auf Empathie und Menschenkenntnis. Maren Ade inszeniert klug und präzis, was an ihren berühmten Landsmann Loriot erinnern lässt. Wie bei Vicco von Bülow erweist sich das perfekte Timing auch als ihr Erfolgsrezept. Jede Pause ist exakt so lang, wie sie sein muss, auch jedes Zögern, jede Beschleunigung. Nicht unverdient setzte «Le Monde» ihren Cannes-Bericht über die Begeisterungsstürme für den Film auf die Titelseite, jubelte die «New York Times» anlässlich der Premiere und spielten die sonst emotionsfreien, gewinnfixierten Filmeinkäufer verrückt, die Rechte für «Toni Erdmann» wurden bis zum 7. Juli 2016 in 60 Länder verkauft.

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Mehr auseinander als miteinander

Vom Loslassen und Abschied nehmen, von der Endlichkeit und dem Lebenssinn

Eingebunden in die Entfremdung des Menschen durch den Kapitalismus wird Ines gegen Schluss des Films mutig und radikal, sie traut sich etwas in ihrem Umfeld Verrücktes: Egal, ob neben der Spur, sie wird immer die Frau sein, die ihrem Chef einmal nackt die Tür geöffnet hat. Das ist für sie ein Neuanfang, sie hat die sturen, hierarchiegeprägten Normen durchstossen und die Zügel in die Hand genommen. Sie hat losgelassen! Auch wenn es die Regisseurin etwas krasser sagt: «Der Film ist weniger ein Plädoyer fürs Loslassen als fürs Hose Runterlassen.»

«Eine Eltern-Kind Beziehung ist für mich voll von Abschieden. Was für das Kind Anfänge sind, sind für die Eltern oft Abschiede», meint Maren Ade. Die Abschiedsumarmung von Tochter und Vater, zu der es gegen Schluss des Aufenthalts in Bukarest kommt, deutet auf den für alle geltenden grösseren Abschied. Nicht zufällig beginnt der Film mit einem Geburtstags- und endet er mit einem Beerdigungsessen. Am Ende aber stehen sich zwei Menschen gegenüber, die sich jetzt ein bisschen besser kennen und zu akzeptieren beginnen.

Mit Tonis Auftritt als «Kukeri», dem rituellen Spiel in Bulgarien, bei dem männliche Akteure als Tiere kostümiert und maskiert die böser Geister vertreiben und das Ende des alten und den Anfang des neuen Jahres ankündigen, kann der Vater vor der Tochter nochmals die frühere Grösse einnehmen und die Tochter nochmals klein sein wie damals in der Kindheit – symbolisch für das Aufwachsen, den Anfang und das Ende – die Endlichkeit. Und darin scheint sich mir unterschwellig die Frage zu stellen, wie man leben soll, wie das Leben Sinn macht.

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Winfried, zwischen zwei Welten

Aus einem Interview mit Maren Ade, der Drehbuchautorin und Regisseurin

Was war der Anfang von «Toni Erdmann»? Ist es autobiografisch?

Alle meine Filme haben in dem Sinne autobiografische Züge, dass ich etwas weiterdenke, was ich kenne. Gerade bei dem Thema Familie war es interessant, wie wenig ich meiner eigenen Familie beim Schreiben entkommen konnte. Nichts kennt man so gut wie seine eigene Herkunft. Familie hat man ja nur eine, Eltern-Kind, das ist immer lebenslänglich, dem kann man schwer entkommen. Das ist auch das, was mit Ines in «Toni Erdmann» passiert.

Wie kam es zu der Toni-Figur, die im Film ja eine Erfindung des Vaters Winfried ist?

Winfried versucht mit seiner spontanen und waghalsigen Verwandlung eine Auflösung der alten Vater-Tochter-Beziehung, «Toni Erdmann» wird aus einer Verzweiflung heraus geboren. Humor ist ja oft eine Lösung, um etwas zu überwinden, und insofern auch immer dem Schmerz abgerungen. Der Vater ist unfähig, seiner Tochter anders zu begegnen. Er hat als Vater einen Versuch gestartet, das Verhältnis zu erneuern und ist gescheitert. Er weiss nicht mehr weiter und ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach mehr Nähe und seiner Aggression auf sie.

Deine Frauenfiguren arbeiten sich an ihren Konflikten ab. Sind das die modernen Frauen-Identitäten, die du siehst und erlebst?

Ines arbeitet in einem männerdominierten Umfeld und hat das sehr verinnerlicht. Vielleicht würde sie sich sogar eher den Männern zuordnen. Das Problem ist, dass die Männer sie in entscheidenden Momenten dann aber nicht sich zuordnen. Ich habe viele Interviews mit Frauen in führenden Positionen geführt, und die meisten von ihnen haben ihre Ausnahmeposition eigentlich genossen, auch wenn diese sie manchmal einsam gemacht hat. In diesem Sinne ist Ines vielleicht eine moderne Frauenfigur. Aber ganz ehrlich, ich habe mich definitiv nicht hingesetzt und gedacht, ich mach da jetzt was besonders Kritisches über Sexismus in der Businesswelt. Ich wollte es einfach nur realistisch zeigen und mitschwingen lassen.

Ein Familienkonflikt wird also zum Generationenkonflikt, zur Kapitalismus-, zur Mittelstandskritik, zur nie versiegenden Diskussion um die Bedeutung des Lebens und wie wir es leben.

Ja, der politische Konflikt der beiden Figuren hat sich in der Fremde deutlicher gespiegelt – der Vater, der irgendwann dafür gekämpft hat, seine Tochter mit dem nötigen Selbstbewusstsein und Freiheitsgedanken auszustatten, damit sie in die Welt hinausziehen kann. Sie hat mit ihrem konservativen, leistungsorientierten Beruf ein Leben gewählt, das jetzt weit entfernt scheint von den Werten, die ihre Kindheit bestimmt haben. Sie ist Teil von etwas geworden, was Winfried eigentlich mal verachtet hat. Die freie Welt, für die seine Generation gekämpft hat, hat auch einen grenzenlosen, profitorientierten Kapitalismus hervorgebracht, und Winfried hat seine Tochter mit allem ausgestattet, um wunderbar in dieser Welt zu bestehen.

Regie: Maren Ade, Produktion: 2015, Länge: 162 min, Verleih: Filmcoopi

PS

Am Schluss singt Ines den Hit «The Greatest Love of All» von Whitney Houston aus dem Jahre 1985. Ein Song, der dem Film eine zusätzliche berührende Dimension verleiht, dass es sich lohnt, ihn hier ganz zu hören.