Tscharniblues II

Selfi einer gealterten Jugendgruppe: «Dr Tscharniblues» schlug 1980 gross ein, vierzig Jahre später dreht Aron Nick mit der Crew von damals «Tscharnieblues II» als unterhaltsames Dokument der bewegten Berner Männergruppe.
Tscharniblues II

Christoph Eggimann, Stefan Kurt, Stephan Ribi, Yves Progin, Bernhard Nick (von l) im «Tscharniblues II» von 2019

1979, Tscharnergut. Eine Gruppe Männer um die zwanzig drehten den wilden, idealistischen Super-8-Film «Dr Tscharnieblues»: das ungeschminkte Selbstporträt aufmüpfiger Jugendlicher in Bern, etwa zeitgleich mit der 80er-Bewegung in Zürich. Vierzig Jahre später versammelt der Sohn des Regisseurs die fünf «Giele» von damals und geht mit ihnen der Frage nach, was aus den Ideen und Idealen von damals geworden ist. Gegenwart und Zukunft verweben sich im «Tscharnieblues II» zu einer abenteuerlichen Reise mit persönlichen Abgründen, Hoffnungen und der Suche nach Identität.

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Vier der Akteure aus «Dr Tscharniblues» von 1979

Anmerkung von Aron Nick, dem Regisseur von «Tscharniblues II»

Mein Vater wuchs im Tscharnergut, dem ersten Hochhausquartier der Schweiz, auf. Zusammen mit seinem Bruder und mit Freunden hat er, 21-jährig, «Dr Tscharnieblues» gedreht: einen ungestümen, kraftvollen Super-8-Film über ihr Leben. Sie haben das Kunststück vollbracht, 25 Jahre vor Youtube und den ersten Video-Blogs aus dem Nichts heraus ein filmisches Ur-Selfie ihrer Generation zu realisieren. Ich kenne diese Männer gut, ich wuchs unter ihnen auf. Da ist Bäne, mein Vater, Brünu, mein Onkel, Ribi, mein Götti, Stüfi, Yves und Eggi, Freunde und Begleiter meiner Familie. Sie waren Idealisten, Freaks, Non-Konformisten und meine Vorbilder im Guten wie im Schlechten. Deshalb liess mich die Frage nicht los, wie sie geworden sind, was sie heute sind. Was ist aus ihren Träumen, Idealen und Ängsten geworden?

Was wurde aus mir, dem Kind, das in diesem wilden, bunten Haufen aufwuchs? Für Freiräume musste ich nie kämpfen, denn die erhielt ich im Überfluss, das Kulturzentrum Reitschule gab es ohnehin schon vor meiner Geburt. Wenn ich ein filmisches Selfie von mir mache, wird dies nicht ein gesellschaftspolitisches Statement, sondern nur ein weiterer Selbstdarstellungsversuch unter Millionen von Videos im Internet. Ich wachse in einer Gesellschaft auf, in der die Menschen immer mehr in wenige grosse Gewinner und viele kleine Verlierer aufgeteilt werden. Würde ich dieses Muster akzeptieren, müsste ich einen Grossteil meiner Familie und deren Umfeld als Verlierer abstempeln. Doch dagegen wehre ich mich. Es ist für mich kein akzeptabler Weg, dass wir immer grösseren Zielen, noch mehr Likes und Herzchen nacheifern und dabei die versteckten, zerbrechlichen Qualitäten aus den Augen verlieren.

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Vater und Sohn, Bernhard (r) und Aron Nick, die Schöpfer des ersten respektive zweiten Films

Ein filmischer Blues im Gedenken an eine lange Freundschaft

«Dr Tscharniblues» lebt von den Biografien der Protagonisten. Das Geld für den Dreh erarbeiteten sie sich mit kleinen Nebenjobs, die Ausrüstung bekamen sie geliehen. Der Film dauert 37 Minuten, ganz fertig wurde er nie. Die abgedrehten Szenen setzten sie zusammen und ergänzten sie mit einigen Stimmungsbildern, zu denen im Off erzählt wurde, was in den Lücken passierte: Zwei Freunde leben im Tscharnergut und machen zusammen Musik. Der eine, Bäne, ist motiviert und sucht den Erfolg, der andere, Yves, verbringt seine Zeit lieber mit Kiffen. Es kommt, wie es kommen muss: Yves verpasst den ersten Auftritt im Bierhübeli, Bäne geht allein hin und ist sauer. Doch Freunde bleiben sie ein Leben lang. Trotz seiner Kürze und eher dünnen Handlung wird der Film an den Solothurner Filmtagen 1980 zum Überraschungserfolg. Er wurde als Fenster zur Jugend gepriesen: als wildes, unkonventionelles Machwerk junger Menschen, aus ihrer Perspektive gefilmt.

Für den «Tscharniblues II» hat Aron, der 35-jährige Sohne von Bernhard Nick, 2019 die gealterten Akteure von damals noch einmal an den Originalschauplätzen im Tscharnergut vor der Kamera versammelt. Jene, die noch leben; zwei sind gestorben, als erster der Bruder von Bernhard, die treibende Kraft hinter dem damaligen Projekt. Rückblickend schildern die Freunde sein Leben als vorschnelles Verglühen. Seine enormen Aktivitäten, Drogen und ein psychotischer Schub verkürzten sein Leben. Den neuen Film montierten sie aus aktuellen Gesprächen und Aktionen sowie Ausschnitten aus dem alten Film. Entstanden ist ein filmischer, original bernischer Blues, ein neugieriger und nostalgischer, ein heiter-süsser und bitter-saurer, ein lustiger und trauriger Rückblick auf das Leben der fünf damals jungen, heute alten Männern und ihre bewegten und bewegenden Freundschaften.

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Im Wohlensee lassen sie sich treiben

Von den Misserfolgen der Erfolge und den Erfolgen der Misserfolge

«Tscharniblues II» umkreist insistierend, doch vage und zufällig immer wieder die gleichen Themen: Zustände und Befindlichkeiten, Chancen und Grenzen im Leben der Fünf. Was in den punkigeren Achtzigerjahren noch trotzig gewirkt haben mag, erscheint heute als ein etwas verschwommenes und in sich widersprüchliches Lebensgefühl. Der Film wird, je mehr wir eintauchen und mitgehen, allmählich zu einem unterhaltsamen, lustigen, gelegentlich besinnlichen Flow menschlicher Beziehungen und Verbindungen. Aron Nick sagt, er habe den Film auch gedreht, um die Bruchstellen, die Ambivalenzen und das Verhalten bei Schicksalsschlägen im Leben dieser Gruppe herauszuspüren und zu dokumentieren.

Dass in diesem Film Frauen keine Rolle spielen, erklärt sich durch den frühen Tod von Arons Mutter und seines Vaters Schmerz darüber: Leerstelle im Leben der beiden, die es über die Zeiten zu füllen galt. Die Diskussionen während des 82-minütigen Films kreisen, in verschiedenen Tonarten sozusagen, um Fragen wie: Was hat das Leben mit mir gemacht? Was ist aus meinen Träumen geworden? Bin ich heute da, wo ich damals hinwollte? Spielt jenes Leben für mein heutiges eine Rolle? Ist das, was ich erreicht habe, ein Erfolg oder ein Misserfolg? Was ist von den alten Idealen geblieben? Was hat sich, wie und warum, verändert? Das alles sind Fragen, die nicht nur für die Tscharner-Giele, sondern gleicherweise für viele andere ältere Menschen existenziell werden können – eigene verdrängte Fragen stellen, die manchmal auch wehtun: diese Misserfolge der Erfolge oder Erfolge der Misserfolge, eindrücklich dargestellt in diesem Vorher-Nachher-Bild einer Generation.

Regie: Aron Nick, Produktion: 2019, Länge: 82 min, Verleih: filmbringer