UFO in Her Eyes
Ohne äusseren Anlass und aufgrund einer schieren Vermutung rückt ein Dorf in der chinesischen Provinz mit einem Mal ins Zentrum des öffentlichen Interesses, nachdem sich eine junge Dorfschönheit und der verheiratete Lehrer in der Natur draussen zum Turteln getroffen hatten. Dafür benötigten sie als Alibi und fanden es in einem Ufo, womit in der kommunistischen Kommune der Traum vom grossen Geld nach amerikanischem Muster begann. Das ausserirdische Flugvehikel, das die junge Frau erfunden hatte, zog Menschen und Medien an. Selbst die Dorfälteste liess sich vom Fieber der Globalisierung mitreissen, weil sie damit viel Geld zu verdienen hoffte. Während das Dorf in einen kapitalistischen Fieberrausch katapultiert wurde, ging bei der Bevölkerung alles drunter und drüber.
Die chinesische Schriftstellerin und Filmemacherin Xiaolu Guo, die 1973 selbst in der Provinz aufgewachsen ist und heute in London lebt, hat die Romanvorlage geschrieben und gleich selbst in eine turbulente Filmkomödie umgesetzt, in der sie die heutige Situation im Land mit augenzwinkerndem Schalk und der nötigen Distanz inszeniert. Mit dem Spielfilm «She, A Chinese» hat Guo vor drei Jahren in Locarno den Goldenen Leoparden geholt. Mit «Ufo In Her Eyes» demonstriert sie, wie gescheit Kinounterhaltung und wie unterhaltsam Arthousekino sein kann. 2009 gründet sie «die metaphysische Gewerkschaft des Kinos» in London und Peking, mit dem Zweck, ein freies Kino zu fördern, das sich nicht an Erzählkonventionen halten muss. Jetzt spielt sie bravoureus mit den filmischen Mitteln und den Publikumserwartungen und brilliert mit einem Schauspiel der Sonderklasse.
Big Mao trifft Big Mac
Für viele Westler ist China das grosse Vorbild, dem sie nacheifern. Doch mit dem rasenden Tempo, mit dem sich das Land in den Umbruch bewegt, erwachsen ihm neben Vorteilen auch gravierende Nachteile: Verlust der Individualität, Untergang alter Werte, Entwurzelung und Heimatlosigkeit, Vergrösserung der Spanne zwischen Arm und Reich, Einschränkung demokratischer und humanitärer Freiheiten und Rechte. Angesichts solcher schwarzer Wolken am Himmel der Zukunft gedeihen in der Gesellschaft und bei der Filmemacherin die wildesten Träume und Fantasien. Alles was der Film mit seinen dokumentarischen und spielerisch improvisierenden Elementen zeigt, hat die Regisseurin am eigenen Leib erfahren. Sie war Zeugin des radikalen Wandels in der Geschichte Chinas, insbesondere der chaotischen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre: vom Feudalismus zum Kommunismus und jetzt zum Kapitalismus.
Die ältere Generation kann dieser Entwicklung kaum mehr folgen und verbringt den Lebensabend in Schmerz und Wut. Die junge Generation langweilt sich in den Dörfern und will weg oder zieht in die Stadt. «Daran erinnere ich mich noch, weil ich es selbst so empfand – dieses unruhige Gefühl unter der trockenen Sonne auf den verlassenen Reisfeldern, wo uns keine Wahl für unser Leben blieb. Da gab es nichts ausser Armut und Unterdrückung, die von einer sehr strengen Tradition und einer noch viel strengeren, totalitären Gesellschaft ausging», meint die Filmemacherin und fügt kritisch an: «Ich habe oft den Eindruck, dass China ziemlich rasch vorwärts kommt, aber nicht auf chinesische, sondern auf amerikanische Weise.»
Der Wandel betrifft die grossen Zentren, aber er dringt auch in die Provinz vor. Die Gegensätze zwischen einem bereits stark von kapitalistischen Grossstadtdimensionen geprägten Shanghai und den nach wie vor dominierenden kommunistischen, eher düster wirkenden Produktivitätszentren auf dem Land sind gross. Als Träume aber werden überall dieselben Aussichten verkauft.
«Ufo In Her Eyes» zeigt zwei Welten, die aufeinandertreffen, sich mitunter ausschliessen. Hier das halbwegs idyllische, eher ärmliche Landleben, in dem das Einheitstenu noch immer prägend wirkt, dort die Welt des Kaufens und Verkaufens, Produzieren und Konsumieren, in der alles seinen Preis haben muss. Xiaolu Guo inszeniert mit Humor und schrägen Zuspitzungen, wie der Ausverkauf im Kommunismus läuft und der Kapitalismus sein Unwesen zu treiben beginnt. Sie legt damit den Finger auf einen wunden Punkt im Wirtschaftswunder China: Nicht alle schaffen es, bei diesem Tempo mitzuhalten, und ob die Rechnung mit dem Vorgaukeln der Träume und dem Erwachen am Morgen schliesslich aufgeht, wissen die Götter im Himmel von Mao.
Wer China auch nur ein bisschen kennt, wird überall in diesem Film auf Erinnerungsmomente stossen, wem es fremd ist, vermag Xiaolu Guo die gegenwärtige Situation im Land auf unterhaltsame, lockere Weise ein Stück weit näherbringen. Die Filmemacherin hat sich nie davor gescheut, auch an Tabus in ihrer Heimat zu kratzen. Und immer wieder präsentiert sie uns sonderbare Szenen, in denen man das Gefühl bekommt, mit den Ausserirdischen seien gar nicht etwa Kreaturen von anderen Planeten gemeint. Es reicht am Ort der Handlung eigentlich schon, dass jemand aus der Hauptstadt eintrifft oder gar aus einem anderen Land. Da trifft dann eben Big Mac auf Big Mao.
Wie so oft in der Kunst machen einem die Extreme einer Situation bewusst, was in der Normalität kaum hörbar, sichtbar und erkennbar ist. Künstlerinnen wie Xiaolu Guo gehen zeigen uns auf, wo wir uns befinden und wo es lang geht. Was sie an der Entwicklung in China aufzeigt, hat jedoch universelle Bedeutung, gilt für Europa, für die Schweiz. In der lustigen und witzigen Geschichte des Films zeigt uns Xiaolu Guo einen einzigen kleinen Menschen auf dem schwierigen Weg zum Überleben – ganz im Sinne eines modernen Sisyphos.