Ultima Thule
Ein erfolgreicher Geschäftsmann verunfallt und liegt auf der Intensivstation im Koma. In dieser Zeit macht er eine innere Reise zu sich selbst, zu den Ursprüngen des Lebens allgemein und zu seiner Jugend. – Der Film «Ultima Thule – Eine Reise an den Rand der Welt» des Schweizer Dokumentar- und Spielfilmautors Hans-Ulrich Schlumpf bewegt sich auf zwei Ebenen. Eine erzählt die Geschichte des Unfalls, des Sterbens und Wiedererwachens; die andere schildert das nicht gelebte Leben, das jetzt nachgeholt wird, und den Weg der Suche nach Lebenssinn. Der Begriff «Ultima Thule» bedeutete – unter anderem - in der Antike den sagenumwobenen Ort am nördlichen Rand der Welt, dann den Ort, der auf keiner Karte verzeichnet ist, jede weit entfernte, unbekannte Region und allgemein das fernste Ziel menschlicher Bemühungen.
Zwei Geschichten
Als der erfolgreiche Börsenhändler Alfred Böhler an einem trüben Wintermorgen wie jeden Tag nach dem familiären Frühstück ins Geschäft aufbricht, ahnt er nicht, welch dramatische Wende sein Leben nehmen wird. Er rast in einen Auffahrunfall. Ein Adler schwingt auf und setzt sich auf den Ast eines nahen Baumes. Seine Augen sind gross, von unergründlicher Tiefe, sein Blick ist auf die Unfallstelle gerichtet. Alfred sieht sich selbst, blutüberströmt, seltsam verrenkt im zertrümmerten Auto. Rettungsmannschaften fahren auf, kümmern sich um ihn. Er wird in den Schockraum, dann in die Intensivstation gebracht, wo die Ärzte und Schwestern um sein Leben kämpfen. Seine Frau Anita tritt an sein Bett, hadert mit ihm, wendet sich ihm dennoch zu. Er gibt keine Antwort. Die innere Reise, die er während dieser Zeit erlebt, führt ihn ins Weltall, vor dessen Kälte er jedoch zurückschreckt. Über Gipfel und Gletscher gelangt er in die wärmeren Sedimentebenen, wo er Leben entdeckt. In der Begegnung mit der elementaren Natur in den urtümlichen Landschaften Alaskas, erinnert er sich an seinen früheren Berufswunsch, Naturwissenschaftler zu werden. Er erkennt, wie Pflanzen die Kieswerke der Endmoränen erobern und in einen blühenden Garten verwandeln. Er dringt ein in den Mikrokosmos eines Wassertropfens, wo ihn die phantastischen Kleinlebewesen, die am Bau der Erde beteiligt waren, entzücken. Immer weiter schreitet er den Weg der Evolution ab, wo ihm die schönsten Blumen, die lustigen Erdhörnchen, aber auch Elche und Bisons begegnen.
Fragen des Films …
Will Alfred überhaupt zurück? Diese Frage steht im Raum, gibt dem Film eine Dimension der Offenheit. Doch die Macht des Lebens und der Liebe siegt schliesslich über den Tod und führt ihn in unsere Welt zurück, wo ihn Anita erwartet.
Wie kam, fragt man sich, Hans-Ulrich Schlumpf zu diesem Thema? Ein Grund dürften die Erfahrengen gewesen sein, welche er bei den Dreharbeiten zu «Der Kongress der Pinguine» in der Einsamkeit der Antarktis und allein mit den Fragen nach dem Sinn des Lebens gemacht hat.
Weiter soll es seine Auseinandersetzung gewesen sein mit der Gaia-Theorie, die besagt, dass die Erde ein Lebewesen ist, ein einziger grosser Organismus, der sich genau die Umgebung schafft, die er braucht, dass so die Evolution des Lebens aus der aktiven Kooperation der vier Grundelemente, des Erdbodens, des Wassers, der Luft und des Lebens, erklärbar ist.
Und weiter meint der Autor: «Verschiedene Elemente meines Interesses stossen in diesem Film zusammen: Das Bewusstsein der Verletzlichkeit der Individuen, welche jederzeit von einbrechenden Ereignissen überfahren werden können. Die Macht des Zufalls in den Biografien, welche … ebenso sehr eine unerwartet andere Bahn nehmen. Die Welt der Intensivstation, wo der Tod ein ständig Anwesender ist. Die Natur, welche mit uns oder ohne uns lebt.
Das Leben, das immer klarer auch unter naturwissenschaftlichen Gesichtpunkten buchstäblich alles durchdringt auf diesem kleinen Planeten. Und schliesslich die Reise, welche man immer auch als innere Reise verstehen kann.»
Angesichts des Seebebens Ende 2004, der Naturkatastrophe in der Schweiz und des Hurrikan Katrina im Sommer 2005 zeigt sich die offensichtliche Relevanz und Aktualität dieser Ansicht.
… und Antworten darauf
Bei den Fragestellungen, wie sie «Ultima Thule» als faszinierendes Filmerlebnis stellt, gibt es keine für alle verbindlichen Antworten, sondern nur persönliche, die jede und jeder selbst zu suchen hat. Mir kamen dabei folgende Gefühle und Gedanken:
Das Leben ist, je mehr man in die Jahre kommt, desto offensichtlicher, kurz, allzu kurz und kann jeden Augenblick, Vorsorge und Vorsicht hin oder her, erlöschen oder ausgelöscht werden.
Wir sind mit unserem Leben eingebettet in ein Netz von Beziehungen: mit Partnern, Kindern, Verwandten und Menschen, mit denen man zusammen arbeitet, und wer von der Gaia-Theorie ausgeht, mit der ganzen Kreatur.
Am Schluss, woher auch immer, entsteht in uns ein Gefühl von Schönheit und Grösse, eine unerklärliche und gleichwohl zuversichtliche Hoffnung, nicht unbedingt für die Ewigkeit, sondern vor allem für die Gegenwart, das Hier und Jetzt, die Menschen und die Natur.
Diese Grösse und Schönheit der Welt ist da, um wahrgenommen, bestaunt und genossen zu werden. Die einzige «Sünde wider die Welt», ist demzufolge, diese nicht genutzt zu haben. Das «Carpe diem» der Römer erstrahlt hier im Film in neuem Licht.
Das waren meine spontanen Gefühle und ersten Gedanken. Jede Besucherin, jeder Besucher dieses wichtigen Films wird ihn anders sehen, fühlen, bedenken und in die Tat umsetzen. Wie nur selten im Kino lohnt sich bei «Ultima Thule – eine Reise an den Rand der Welt» die Auseinandersetzung! Der Film ist notwendig, weil er sinnvoll ist.
Gedicht des Chinesischen Philosophen Zhuang Zhou
Ich träumte einst, ich sei ein Schmetterling, ein glücklich flatternder Schmetterling,der nichts wusste von meinem täglichen Dasein. Plötzlich erwachte ich undwar wieder ich selbst. Und weiss ich nicht: bin ich derjenige, der träumte, dass er ein Schmetterling sei. Oder bin ich in Wirklichkeit ein Schmetterling,der träumt, er sei ich? Das ist doch ein ganz wesentlicher Unterschied!