Un beau matin

Eine Symphonie des Lebens: Mit dem Spielfilm «Un beau matin» schuf Mia Hansen-Løves, mit einer leidenschaftlichen Dreiecksbeziehung und einer aufwühlenden Alterskrankheitsgeschichte, mit Léa Seydoux, Pascal Greggory und Melvil Poupaud in den Hauptrollen, eine berührende Symphonie des Lebens. Ab 15. Dezember im Kino
Un beau matin

Clément und Linn mit Mutter Sandra bei Georg (v. l.)

Die 35jährige Sandra, alleinerziehende Mutter von Linn, besucht regelmässig ihren Vater Georg Kienzler, ehemaliger Philosophieprofessor, heute an einer degenerativen Krankheit leidend. Mit der Familie sucht sie für ihn ein gutes Spital und ein passendes Heim. Per Zufall trifft Sandra, die vor fünf Jahren ihren Mann verloren hat, auf der Strasse Clément, einen Freund aus alten Tagen. Als Vater von Jérémie und Partner von Leïla tut dieser sich, nachdem es erstmals zu heissen Liebesnächten gekommen ist, schliesslich schwer, sich zu entscheiden zwischen seiner Frau und der Geliebten.

Beide Geschichten lässt uns die Regisseurin Mia Hansen-Løve, mit drei grossen Darsteller:innen und einer ausgezeichneten Crew, miterleben. Eine «Liebe in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen und die daraus resultierenden Verletzlichkeit» war ihre Absicht mit beiden Handlungen. – Nachstehend begleiten wir das Spiel dieser Familiengeschichte und die darin enthaltenen Botschaften, unterstützt mit Ausschnitten aus einem Interview mit der Autorin.

Eine Sinfonie ...


Aus der Musik kennen wir die Begriffe Andante, Adagio, Scherzo, Vivace und Presto, mit denen Werke charakterisiert werden, die auch gegenseitig aufeinander eingehen, und erlebten wohl alle schon die berührende Wirkung derselben. Und wenn Musik, wie ich meine, die ästhetische Umfassung dessen ist, was wir als das Leben bezeichnen, dann hat Mia Hansen-Løves mit «Un beau matin» die musikalischen Symphonien mit einer filmischen bereichert.

mit Sandra (Léa Seydoux)


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Sandra, in ihren Höhen und Tiefen begleitet

Sandra, die Mutter von Linn und Tochter von Georg, lebt ohne Partner, umsorgt ihren kranken Vater, ist Alleinerzieherin ihrer Tochter und übersetzt fremde Texte. Die Regisseurin hat Léa Seydoux, dem umschwärmten Kino-Star mit Sex-Appeal, eine neue Rolle auf den Leib geschrieben. «Ich wollte sie ihrer verführerischen Attribute berauben: sie mit kurzen Haaren und nacktem Kopf, als Mutter in ihrem Alltag und als Berufsfrau zeigen.» Hier spielt Léa nicht die betrachtete und begehrte Frau, sondern betrachtet sie die andern. Wir sehen ihr beim Anschauen und Zuhören zu und erhalten indirekt Einblicke in ihr Innenleben.

Ob ihrer vielen Aufgaben hat sie Lieben und Sexualität als Lebenselixier beinahe vergessen. «Mein Liebesleben ist vorbei», meint sie einmal resigniert, bis sie Clément trifft. Nach anfänglich freundschaftlichem Austausch beginnt in ihr und mit ihr eine leidenschaftliche erotische Liebesbeziehung und führt sie, mit ihm zusammen, in die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen.

... mit Georg (Pascal Greggory)

 

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Vater George mit Tochter Sandra

Seit 25 Jahren von Leïla getrennt, zwischenzeitlich mit einer Geliebten, lebte George als Philosophieprofessor, ist jetzt aber ernsthaft krank. Die Ärzte bezeichnen seine Krankheit als Benson-Syndrom, ähnlich wie Alzheimer mit fortschreitendem Zerfall des Bewusstseins, was er mit Kierkegaard wohl als «Die Krankheit zum Tode» beschreiben würde. Bücher waren sein Leben, Lesen und Schreiben seine Form des Widerstands. Sandra war allzeit bereit, ihm zu helfen, auch wenn die übrige Familie es ihr nicht verdankte. Sie sorgt für ihn bis ans Ende. Das unerklärbare, leise Verschwinden der Person, die einst ihr Vater war, macht sie traurig.

Mit dem Satz «Bei seinen Büchern fühle ich mich ihm näher als real bei ihm» charakterisiert Sandra den ehemaligen Leser und Denker. Am Ende wirkt sein Abschied zwar schmerzlich, aber doch befreiend. Denn auch sie muss ins Leben zurückkehren, wenn sie es auch als egoistische Lebensnotwendigkeit bezeichnet und sich dennoch schuldig fühlt. – Um vieles intensiver und erschütternder trifft sie die Begegnung mit und die Trennung von Clément, ihrem Geliebten. Am Schluss heult sie: «Ich will nicht mehr deine Geliebte ein. Ich halte es nicht mehr aus.»
 

und Clément (Melvil Poupaud)

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Clément mit Linn und Sandra

«Als ich am Drehbuch arbeitete, traf ich einen Kosmochemiker, der mir von seinem Beruf erzählte. Was ich bei ihm entdeckte, war weit weg von den Klischees eines hieratischen Wissenschaftlers im Hightech-Büro. Es sind seine Reisen und Forschungen auf der einen Seite, der bescheidene, einfache Alltag auf der anderen. Ich sah eine Poesie in seinen Eigenschaften, was mir gefiel, und wollte, dass Clément Sandra von Anfang an zum Träumen bringt, aber dennoch real bleibt.» Er bringt mit seiner Fantasie den Aufbruch und die Öffnung in Sandras Leben.

Und seine Schuld? Es stimmt, dass wir in dieser Geschichte einem Mann begegnen, der seine Frau über einen gewissen Zeitraum betrügt. Manche mögen ihn verurteilen; die Regisseurin und der Film tun es nicht. Er bringt mit seiner Leidenschaft Höhepunkte und Tiefpunkte ins Leben beider. Auf der einen Seite steht eine liebende und geliebte Gattin, auf der andern die spontane, intensive Leidenschaft. Ein Widerspruch, doch ein radikal menschlicher, meine ich. Verzweifelt stellt er am Schluss fest: «Ich kann es nicht, meine Frau verlassen, meinen Sohn leiden lassen. Es zerreisst mir das Herz. Ich kann nicht mehr kommen.»

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Sandra mit Linn, die die entscheidende Antwort bekommt

Gefühle spüren, Gefühle leben

Ähnlich wie Andante, Adagio, Scherzo, Vivace, Presto sich immer mal aufeinander beziehen, anrufen und antworten, geht es den Personen im Film: In der ersten Szene beispielsweise ist Sandra an der Tür ihres Vaters blockiert, hat sie Schwierigkeiten, in seine Wohnung zu kommen, in den Film einzusteigen. In der letzten Szene auf Montmartre mit Blick über Paris ist der Horizont offen, das Gespräch zwischen Clément und Linn deutet es an: Er: «Weisst du, wo dein Haus ist?» Sie: «Nein.» Er: «Dein Haus liegt direkt vor dir». So beantwortet das Ende die unterschwellige Frage des Anfangs. Der Film bewegt sich also von der geschlossenen Tür beim alten Georg zum offenen Horizont der jungen Sandra und der noch jüngeren Linn.

«Ich glaube, ich könnte keinen Film mit einem nur tragischen Ausgang machen. Gewiss, mit dem Vater kann es kein Happy End mehr geben. Doch ich hätte den Film nicht machen können, nur um das zu erzählen. In meinen Filmen gibt es immer eine Bewegung, die auf das Licht hinführt.»

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Sandras nimmt endgültig Abschied

Vom Abschied ...

Die Frage der sorgenden Selbsthingabe, die bis zum Ausgenutztwerden führt, ist in Sandras Leben zentral. Sie drückt ihre Gefühle nur selten, und dann noch zurückhaltend, aus. Doch damit hilft sie dem Vater, eigene Worte zu finden und quälende Ängste zu vergessen. Ansonsten ist Sandra in dem, was sie tut und macht, gefangen: ihrem Alltag, ihren Pflichten andern gegenüber, dem Vater, der Tochter, der Aufgabe als Übersetzerin, die wieder darin besteht, die Gedanken anderer weiterzugeben, selbst hinter fremden Worten zurückzutreten. Wie sie lebt oder nicht lebt, kann sie niemandem erzählen. – Im Gegensatz dazu besteht ihre Beziehung zu Clément in explodierender Leidenschaft, in purer Lust. Dabei haben Worte keinen Platz, ihre Körper sprechen und singen den wunderbaren Dialog der erotischen Liebe.

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Sandra und Clément


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«Die Worte von Georgs Sprache entleeren sich ihrer Bedeutung, gebären manchmal poetische Formulierungen. Die Logik bricht auseinander, die Poesie, Auswirkung seiner Krankheit, die unwillkürlich und gewaltsam auftaucht, sagt Unausgesprochenes über ihn aus. Es ist oft schwierig, zwischen dem, was Sinn macht, und dem, was keinen Sinn macht, zu unterscheiden. Diese Ungewissheit macht die Dinge und deren Wahrnehmung schmerzhaft», meint Mia Hansen-Løve zum Filmschluss. Die Beziehungen von Georg lösen sich auf, wie sich sein Geist und schliesslich sein Körper auflöst und ein Kreis sich «an einem schönen Morgen» schliesst.

Regie: Mia Hansen-Løve, Produktion: 2022, Länge: 112 min, Verleih: Frenetic