Un cuento chino

Wenn eine Kuh vom Himmel fällt …

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... geht noch anderes drunter und drüber im Film «Un cuento chino» des Argentiniers Sebastian Borensztein. Der Titel bedeutet so viel wie «Ammenmärchen» oder «Lügengeschichte», was er auch ist.

Er handelt von Märchen und Geschichten. Und Märchen erzählen seit Jahrhunderten Wahrheiten der besonderen, bedeutungsvollen Art, und Geschichten handeln davon, was geschehen ist oder sein könnte und deuten damit das Leben. Es geht also um etwas, was zutiefst mit unserem Leben zusammenhängt.

Wir alle kennen skurrile Geschichten über seltsame Unfälle oder Missgeschicke, die die Zeitungen unter «Vermischtes» vermerken. Das sind jene Meldungen, welche die Lesenden angesichts der Fülle schlechter Nachrichten schliesslich dennoch mit einem Lächeln in den Tag ziehen lassen. Eine der schönsten und bekanntesten dieser «Wahren Geschichten» ist wohl jene von der Kuh, die vom Himmel fällt. Genau diese Geschichte bildet den Ausgangspunkt zu «Chinese zum Mitnehmen». Hier trifft es ein chinesischen «Love Boat», auf dem der einfache Arbeiter Jun (Ignacio Huang) auf dem Wasser seiner Verlobten gerade einen Heiratsantrag machen will, wozu es dann aber nicht mehr kommt. Schockiert ob dieses Schicksalsschlages macht sich der junge Mann auf den Weg nach Argentinien, um in Buenos Aires von seinem Onkel Trost zu erhalten. Schliesslich ist ihm genau das widerfahren, was bekanntermassen selbst die furchtlosen Gallier bei Asterix am meisten fürchteten: Ihm ist der Himmel auf den Kopf gefallen, und das im gar nicht mal so übertragenen Sinne.

… geschehen noch andere Zeichen und Wunder

Im fernen Argentinien hat Jun dann schliesslich Glück, auch wenn es anfangs nicht wirklich danach aussieht. Aus einem Taxi geworfen, purzelt er ausgerechnet dem missmutigen Eisenwarenhändler Roberto (Ricardo Darín, Titelbild) vor die Füsse. Weil dieser kein Chinesisch und Jun kein Spanisch spricht, ist das mit der Kommunikation so eine Sache. Dass sich Roberto dennoch des Hilfsbedürftigen annimmt und ihn bei sich beherbergt, ist das erste kleine Wunder. Dass die beiden trotz der nicht existenten Hilfsbereitschaft der chinesischen Botschaft die Spur zum Onkel finden, ist das zweite. Und dass durch diese Begegnung Robertos freudloses und von Schrullen und Marotten geprägte Dasein eine entscheidende Wendung erfährt, das dritte. Dass ausgerechnet Roberto, der aus allen ihm verfügbaren Zeitungen täglich skurrile Geschichten sammelt, nun im wirklichen Leben mit dem tragischen Helden einer solchen Story zusammentrifft, ist zwar mehr als unwahrscheinlich, doch warum soll das Leben nicht auch einmal verrücktspielen? Voll schrägem, hintersinnigem Witz und mit leichter Hand spinnt der Regisseur die unmöglichsten Lebensfäden zusammen.

Keine Lügengeschichte ist es auch, dass «Un cuento chino» seit seinem Start im März dieses Jahres allein in Argentinien fast eine Million Zuschauer den Film gesehen hat, und unter der Regie von Sebastián Borenzstein Argentiniens Superstar Ricardo Darín in dieser Komödie zu Hochform aufläuft. Auf irrwitzigen Umwegen führt sie zwei völlig verschiedene Menschen von den Enden der Welt zueinander. Roberto führt sein Eisenwarengeschäft in Buenos Aires und ist ähnlich verschroben wie die Schrauben, die er zählt und verkauft: ein notorischer Einzelgänger, der aus Prinzip nichts und vor allem niemanden zu nahe an sich heran lässt. Eines Tages wird er dann aber Teil einer solchen Geschichte, wie er sie gesammelt hat, als plötzlich der junge Chinese Jun (Ignacio Huang) in sein langweiliges Leben platzt und es komplett umkrempelt. Jun ist gleich nach seiner Ankunft in Argentinien ausgeraubt worden und somit unbedingt auf die Hilfe anderer angewiesen. Widerwillig nimmt Roberto den Chinesen unter seine Fittiche, um dessen Onkel zu suchen – und findet dabei auch gleich einen Ausweg aus seinem eigenen, tristen Dasein.

... und aus Saulus wird Paulus

«Un cuento chino» ist eine mitreissende und zugleich tiefgründige Komödie mit einer Portion leisem und schwarzem Humor. Vom zufälligen Zusammentreffen zweier Kulturen handelt der Film, vom langsamen sich Nähern zweier Menschen. Keiner spricht die Sprache des anderen, ihr kultureller Hintergrund könnte unterschiedlicher kaum sein – dennoch vereint sie ein gemeinsames Schicksal und macht sie zu zwei Verwandten. Solch schräge Komödien haben es in sich, uns vergessene Wahrheiten sichtbar und erlebbar zu machen – bis wir entdecken, dass vielleicht auch bei uns manchmal etwas schief liegt oder schräg läuft.

Anmerkung des Regisseurs

Was für eine Geschichte erzählt dieser Film? Zusammengefasst könnte man sagen: Es ist die Geschichte eines Argentiniers und eines Chinesen, die durch eine vom Himmel gefallene Kuh vereint werden. Man könnte auch sagen, es geht um zwei Männer, einen Argentinier und einen Chinesen, deren Tragödien sich in Buenos Aires kreuzen. Aus dieser Begegnung ergibt sich der Weg für ihr weiteres Leben. «Un cuento chino» ist eine universelle Geschichte, dabei aber auch eine sehr argentinische. Universell, weil sie von Dingen erzählt, die wir auch von uns kennen. Gleichzeitig ist sie sehr argentinisch, weil ihr Protagonist, Veteran des Falklandkrieges, immer noch am Konflikt von 1982 zwischen Argentinien und Grossbritannien um die Falklandinseln leidet. Die Prämisse, die mich zum Schreiben des Drehbuchs und zu dessen Umsetzung getrieben hat, war folgende: Je weiter du dich von dir entfernst, desto näher kommst du dir. Je tiefer du dich in dir einschliesst, desto härter wird der Schlag, der dich daraus befreit. Das Treffen dieser so unterschiedlichen Menschen handelt von Aspekten der menschlichen Seele wie dem Verlassenwerden, der Einsamkeit und der Notwendigkeit, zu überleben. Der Tonfall dieses Märchens ist im Grunde der einer Tragikomödie.

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Auf Gedeih oder Verderben miteinander verbunden

Interview mit dem Regisseur Sebastián Borensztein

Wo haben Sie die authentische Meldung mit den «fliegenden Kühen» entdeckt?

Ich habe die Meldung, dass eine Kuh aus einem Flugzeug auf ein japanisches Fischerboot gestürzt ist und es zum Kentern gebracht hat, erstmals in der überregionalen argentinischen Tageszeitung «Clarín» gelesen, habe sie sofort ausgeschnitten und wusste: Mit dieser Szene beginnt dein nächster Film! Die Meldung war der Stein, der alles ins Rollen gebracht hat. Danach erst hab ich die Geschichte erfunden, die diesen Anfang begründet.

Handelt «Un cuento chino» eher von Einsamkeit oder von Solidarität?

Es geht absolut um die Einsamkeit. Die Solidarität setzt erst dann ein, wenn die Einsamkeit beginnt, Risse zu zeigen.

Die Bildsprache verrät lange nicht, in welcher Zeit die Geschichte spielt. Warum?

Die Figur des Roberto ist in der Zeit stehengeblieben. Sein Haus, seine Sachen, sein Auto, sogar seine Kleidung ist absolut anachronistisch. Das einzige Moderne in seinem Besitz ist der Fernseher, mit dem er seine Filmsammlung anschaut. Roberto ist ein Mann aus der Vergangenheit. Sogar sein Humanismus gehört einer Gesellschaft an, die so nicht mehr existiert und dem heutigen Individualismus entgegengesetzt ist.

Haben Sie Unterstützung von chinesischer Seite für Ihre Produktion erhalten?

Das chinesische Konsulat im Film war nur Kulisse. Wir haben keinerlei Kontakt mit China und wissen, dass es schwer ist, dort unseren Film zu zeigen. Es gibt nur eine kleine Quote an ausländischen Produktionen in der Volksrepublik, die zudem einen offiziellen Filter durchlaufen müssen, um autorisiert zu werden.

Wie haben Sie den Schauspielstar Ricardo Darín davon überzeugt, Roberto zu spielen – einen Unsympathischen im Handwerkerkittel – und wie haben Sie den Darsteller des Hun gefunden?

Ricardo, mit dem ich schon lange befreundet bin, hat sich in die Rolle und in das Drehbuch verliebt, sobald er es gelesen hat. Ignacio Sheng Huang war der erste asiatische Schauspieler, der zum Casting erschienen ist. Ich wusste sofort, dass ich meinen Hun gefunden hatte.

Warum war es wichtig, den Falkland-Konflikt zwischen Grossbritannien und Argentinien im Film unterzubringen?

Dieser Krieg hat Robertos Leben zerstört. Er begründet seine Handlungen in der Gegenwart. Für mich war dieser Konflikt ein Thema, das ich behandeln wollte, ohne einen Kriegsfilm zu drehen. Der Falklandkrieg war der Krieg meiner Generation. Er hat mich persönlich betroffen, obwohl ich nicht an die Front musste, meine Freunde hingegen sehr wohl. Als Filmemacher war er für mich eine offene Rechnung. Man muss darüber sprechen, was der Krieg hinterlassen hat und vor welchen seiner Auswirkungen Staat und Gesellschaft heute noch die Augen verschliessen.

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