Unser Vater
Tonis sechs heute erwachsene Kinder mit Bischof Josef Maria Bonnemain
Anmerkungen des Regisseurs Miklós Gimes
Der Anstoss zu diesem Film kam von einer sechzigjährigen Frau aus Dietikon. Ihr Vater sei ein katholischer Priester, erzählte sie, er habe einige Kinder in die Welt gesetzt und die Mütter allein zurückgelassen; die Kirche habe alles gewusst und tatenlos zugeschaut. «Das ist doch ein Filmthema», sagte sie. Na ja, meinte ich zurückhaltend, über die Sexualmoral der katholischen Kirche ist in den Medien schon viel berichtet worden, und von Religion verstehe ich nichts. Doch irgendetwas machte mich neugierig.
Wir verabredeten uns im Zürcher Bahnhofbuffet, die Frau brachte ihre Geschwister mit. Sie erzählten alle ihre Geschichten und wie ihre Mütter verführt wurden. Ich schaute in die sechs Gesichter und spürte, dass dieses Projekt eine Gelegenheit war, unter die Oberfläche des Schweizer Alltags zu blicken. Hinter den Schein und die Doppelmoral. Der rote Faden der Filmgeschichte würden der Priester-Casanova, die vier Mütter, die sechs Kinder und ihre Verflechtungen sein. Doch was mich vor allem reizte, war die einmalige Möglichkeit, Menschen vor der Kamera zu haben, die bereit waren, über Themen zu reden, die man eher meidet. Über Familienangelegenheiten, über Scham und Verletzungen. Mir wurde klar, dass ich den Film machen will.
So begann eine Zeitreise, die mich hinaustrug in die Dörfer, die Schweiz der 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts, der Generation unserer Eltern und Grosseltern. Ich habe eine Welt entdeckt, die ich nicht kannte, die Welt der Familiengeheimnisse und des Schweigens. Entstanden ist ein intimer, persönlicher Film. Die Protagonistinnen und Protagonisten haben mir vertraut. Es war, als hätten sich bei der Dreharbeit Wunden aufgetan, als sei ein Riss durch die Sprachlosigkeit gegangen. Das Thema der Kirche, des Zölibats und der Sexualmoral jener Zeit, schwingt mit. Aber darüber hinaus transportiert der Film das Klima einer Gesellschaft, die bereits Geschichte ist – doch nur auf den ersten Blick. Denn sie lebt weiter, abgelagert in den Genen, der Mentalität unseres Landes.
Miklós Gimes wurde 1950 in Budapest geboren, ist Schweizer Zeitungsjournalist und Dokumentarfilmer («Mutter», 2002, «Bad Boy Kummer», 2010).
Der attraktive katholische Priester
Am Anfang der Pfarrer ...
Anton Ebnöther, geboren 1919 im Kanton Schwyz, gestorben 2011 in Saas, war katholischer Priester, bis der Bischof ihn des Amtes enthob, «weil er zu viel Musik mache», wie es offiziell hiess, und der dann Gastwirt in der Pension «Sunneschy» in Saas wurde. «In all meinen Jahren im Prättigau haben mehr und mehr Einheimische und Gäste, Verwandte und Freunde den Wunsch geäussert, ich möchte doch etwas von all den Liedern, die ich jeweils beim Gottesdienst, bei Beerdigungen und Hochzeiten singe, der Nachwelt zugänglich mache. Das geschah ohne jede Kunst, nur mit meinem kleinen Radio mit zwei Mikrofonen. Es kommt von Herzen und möge zum Herzen gehen. Toni Ebnöther, in der engeren Heimat, der Rempen-Toni.» Mit diesen Worten stellt sich der «Held» des Dokumentarfilms «Unser Vater» von Miklós Gimes vor.
Wie ein breiter Fluss mäandert der Film durch die Lebensgeschichten der Kinder von Toni und deren Mütter. Aufwendig erweist sich die Suche nach der individuellen Wahrheit, den vergessenen oder verdrängten Erlebnissen hinter den komplizierten Beziehungen. Jedes Wegstück löst Gefühle aus: fragende, traurige, verärgerte, wütende, kritisierende. Diesen Gedanken- und Gefühlssträngen zu folgen, macht uns Zuschauenden erlebbar und bewusst, was in dieser – und ähnlichen Geschichten rund um den Zölibat – abläuft, erduldet und erlitten wird. Zwei Menschengruppen betrifft es vor allem, was der Priester angerichtet hat: die Kinder, die er gezeugt und einem unbestimmten, oft prekären Schicksal überlassen hat, die Frauen, die er belogen, verführt, missbraucht, vergewaltigt, «weggeworfen» und in ihrer psychischen und moralischen Situation hat sitzen lassen. Bei all ihren Gesprächen, die vor allem Monika Gisler initiiert hat, erzählen Frauen und Männer über ihre vaterlose Jugend, ihre tapferen, teilweise unwissenden Mütter.
Immer wieder stossen sie zum Kern der Tragödie vor: dem fatalen Schweigen, das sie erst jetzt brechen, der Autoritätsgläubigkeit der Kirche und dem seit Jahrhunderten veralteten Zölibatsgebot; es wurde unter Papst Innozenz II. im Jahre 1139 auf dem zweiten Lateran-Konzil beschlossen und für christliche Priester auf der ganzen Welt zur Pflicht gemacht.
... dann die Kinder und Mütter
Weil die Recherchen im Film intuitiv und assoziativ verlaufen (Schnitt Christof Schertenleib), folgen hier zur Orientierung die Kurzporträts aller beteiligten Kinder, heute Erwachsenen zwischen 55 und 72 Jahren. Und weil ich den Opfern von Anton Ebnöther den angemessenen Respekt und das verdiente Mitleid zollen möchte, bringe ich ihre Bilder grossformatig, wie Helden des Alltags.
Adrian Meier, 55, wuchs mit seiner Schwester Daniela im Prättigau auf; ihre Mutter hat die beiden allein grossgezogen. Adi hat eine Praxis für Physiotherapie in Spreitenbach, zum Golfspielen kommen Freunde gern zu ihm. Seine Frau Pat hat er vor Jahren in Thailand kennengelernt, sie haben keine Kinder, aber eine Siamkatze.
Daniela Mühletaler, 58, die Schwester von Adrian, ist als Köchin aus dem Prättigau an den Thunersee umgezogen, hat zwei erwachsene Töchter. Sie kocht in einem Altersheim und führt ein Ferienparadies für Hunde ausserhalb von Thun. Dort lebt sie mit ihrem tschechoslowakischen Wolfshund.
Monika Gisler, 64, war ihr Leben lang Lehrerin in der Innerschweiz. Seit diesem Sommer ist sie pensioniert. Jetzt macht sie den Garten auf dem Bauernhof ihres Freundes, oder die beiden segeln auf ihrem Boot in den südasiatischen Gewässern. Monika hat zwei Töchter und zwei Enkel und wohnt in Zug.
Toni Meier, 70, wohnt in der malerischen Altstadt von Eglisau. Im Haus leben auch seine Ex-Frau und seine Adoptivtochter. Er hat ein kleines Baugeschäft und arbeitet viel, besitzt mehrere Häuser im Städtchen. Er ist ein Idealist, und wenn es ihn packt, kurvt er mit seinem schweren Motorrad durch die Schweiz.
Christina Meier, 71. Als die Kinder grösser waren, stieg sie aus ihrem Bürojob aus, kaufte ein Pferdegestüt und arbeitete mit sozial benachteiligten Jugendlichen. Nach ihrer Pensionierung zog sie nach Italien, seit einem Jahr wohnt sie wieder in der Schweiz, im Emmental. Sie hat zwei Töchter und fünf Enkel.
Lisbeth Binder, 72, wohnt mit ihrem Mann Walti in Dietikon, wo sie aufgewachsen sind. Sie haben zwei Kinder und drei Enkel. Lisbeth ist sozial engagiert, war in der katholischen Arbeiterinnenbewegung tätig. Ihr Ferienhaus im Wallis haben sie aufgegeben und fahren jetzt mit ihrem Wohnmobil durch Europa.
... und am Ende wir
Wenn gegen Schluss des Films Bischof Josef Maria Bonnemain die Gruppe in Chur empfängt, charmant begrüsst, mit nichtssagenden Floskeln unterhält, wird es einem nicht recht wohl. Ebenso nicht, wenn er seinen eigenen Vorschlag zur Abschaffung des Zölibats mit einem klaren Nein quittiert. Auch überzeugt es wenig, wenn er zugibt, «Verzeihen Sie uns. Wir sind schuldig». Oder wenn er, der Opfer der priesterlichen Unmenschlichkeiten gedenkend, in einem feierlichen Gottesdienst in der Kathedrale mit dem ganzen klerikalen Pomp aufwartet. Ebenso nicht wenn der Bischof das Treffen mit «Gott hat uns nicht im Stich gelassen. Am Schluss endet das mit Happy End», beschliesst.
So wird uns bewusst, dass von der katholischen Kirche, auch weltweit, wohl kaum etwas wirklich Radikales geschehen wird, sondern dass wir aufgefordert sind – das ist wohl ein Verdienst des Films –, innerhalb oder ausserhalb der Kirche selbst weiter zu denken und wo möglich zu handeln, dass solches Leiden, solche Absurdität, solche Unmenschlichkeit, wie sie «Unser Vater» zeigt, in Zukunft verhindert oder zumindest gemildert werden kann.
Fälschung. Lüge eben.