Unter Wasser atmen. Das zweite Leben des Nils Jent

Am Limit und darüber hinaus: Eindrücklicher Dokumentarfilm von Andri Hinnen und Stefan Muggli über Nils Jent, eine grossartige Person, die Respekt erheischt und Mut macht.

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Im Familienfilm-Archiv der Familie Jent finden sich Bilder eines kräftigen, strahlenden jungen Mannes, der Bewegung liebte und waghalsig vom Turm ins Wasser springt. Bis sich eines Tages alles änderte. Bei einem Motorradunfall verliert er 1980 beinahe sein Leben. Nach einem achtminütigen Herzstillstand liegt der damals 18-Jährige vier Wochen im Koma und findet sich danach, vollständig gelähmt, der Sprache beraubt und erblindet, in einer neuen, anderen Existenz. Er hat das sogenannte Locked-in-Syndrom.

Dass selbst in einem solchen Leben Platz für Freude und beruflichen Erfolg sein kann, zeigt der Film «Unter Wasser atmen. Das zweite Leben des Dr. Nils Jent» der Schweizer Regisseure Andri Hinnen und Stefan Muggli eindrücklich. Schritt für Schritt, mit unbändiger Willenskraft und Geduld, kämpft sich Nils ins Leben zurück. Er lotet die Grenzen seines Körpers aus, geht ans Limit und darüber hinaus. Er setzt konsequent auf das, was unversehrt geblieben ist: seine Intelligenz.

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Ein Junge voller Lebenslust und Tatendrang

Maturand, Doktor, Professor

Aufgrund des sonderbaren Benehmens des Pflegepersonals merkte Jent, dass die Ärzte bei ihm von einer geistigen Schädigung ausgingen. Dem war jedoch nicht so. Bald schon fing er an, mit dem Vater und später den Ärzten Schach zu spielen, indem er den mitgeteilten Spielstand memorisierte. Er schlug alle seine Gegner und signalisierte damit seinen klaren Geist und dessen grosses Potenzial. Aus dem Krankenhaus entlassen, legte Jent einen unbändigen Willen an den Tag und machte gegen alle Widrigkeiten die Matura in Schiers.

Wie etwa soll ein blinder, sprech- und mobilitätsbehinderter Mann in eine Schulklasse integriert werden? Dank seines Willens und seiner bestechenden Intelligenz, aber auch dank der bedingungslosen Unterstützung und Liebe seiner Eltern, der Lehrpersonen und der Mitschüler rücken Nils‘ Ziele langsam näher. Er macht die beste Matura der Schule. Dann studiert er Betriebswissenschaft an der Universität St. Gallen, doktoriert und ist heute am Institut für Diversity-Forschung tätig. Zudem schafft er es, mithilfe eines Stocks wieder zu laufen. Doch nebst den vielen Fortschritten muss Jent auch Rückschläge verkraften. Mitten im Aufbau des Kompetenzbereiches Diversity an der HWS erleidet er einen Hirnschlag, der ihn sehr entmutigt. Doch auch diesen Schicksalsschlag überwindet er.

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Jens‘ Eltern im Totaleinsatz

Bilder, die Mut machen

Diese faszinierende und ergreifende Geschichte erzählt von den verborgenen Fähigkeiten des Menschen anhand eines ausserordentlichen und eindrücklichen Beispiels. Was dieser Nils Jent, trotz seiner schwersten Behinderung, geschafft hat, ist kaum zu glauben. Seine Geschichte regt an, nachzudenken und zu forschen, wie die Gesellschaft als Ganze Behinderte besser integrieren kann, wie, im Sinne der Diversity-Forschung, Können und Nichtkönnen, Qualitäten wie Defizite, in Arbeitsteams kreativ genutzt werden können.

Eigentlich war über Jent nur ein kurzer Film geplant. Doch schon bald merkte das junge Regiegespann Andri Hinnen (*1985) und Stefan Muggli (*1984) jedoch, dass dieser dem Thema nicht gerecht würde. So erweiterten sie das Projekt und auch den Zeithorizont ihrer Arbeit. Die beiden fingen zunehmend an, auch ohne Kamera Zeit mit Jent zu verbringen, um seine Person und seinen Alltag besser kennenzulernen. Das entgegengebrachte Vertrauen ist im Film deutlich spürbar. Zusätzlich hatten sie das Glück, dass Jents Leben vor dem Unfall durch die Super-8-Filme seines Vaters wesentlich anschaulicher sind als die sonst üblichen Fotos. «Unter Wasser atmen» ist ein einfacher Film. Doch heisst das hier: ein klarer, ein durchsichtiger, ein gradliniger, ein eindeutiger, ein konsequenter, ein selbstverständlicher Dokumentarfilm. Der kluge Einsatz der Metapher mit der Wasserschildkröte gibt ihm zudem eine Dimension, die weit über den konkreten Fall hinaus geht. Diese existenzielle Dimension berührt jeden und jede. Der Film stösst über die Frage nach der Verlangsamung zur Frage vor: Was ist der Menschen? Dieser, vom äusseren Aufwand und vom Einsatz der formalen Mittel her gesehen, kleine Film ist, seiner reinen Form und ehrlichen Moral wegen, ein ausserordentlicher, ein grosser Film.

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Kann der Mensch im Wasser atmen? Das ist hier die Frage.

Kurze Zeit ist Röbi Koller bei Nils Jent im Film zu sehen. Er hat die Biografie von Dr. Nils Jent in Buchform herausgegeben. Dieses separate, höchst informative Projekt ergänzt den Film. Brigitte Poltera hat das Buch beim Erscheinen für Seniorweb (www.seniorweb.ch/type/magazine-story/2011-09-28-dr-nils-jent-ein-leben-am-limit) besprochen. Verdientermassen erhielt «Unter Wasser atmen. Das zweite Leben des Dr. Nils Jent» am letzten Zürcher Film Festival den Publikumspreis und wurde Nils Jent zum Schweizer des Jahres nominiert und kam, hinter Didier Cuche, auf den ehrenvollen zweiten Platz.

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Der Dozent mit persönlichen Erfahrungen in Diversität

Ein Statement der Filmemacher

Als wir Nils Jent vor etwas mehr als zwei Jahren kennenlernen durften, hat er uns mit seiner Offen- und Andersartigkeit sofort in seinen Bann gezogen. Wir wollten mehr über ihn und seine einzigartige Lebensgeschichte erfahren und beschlossen, ihn mit unserer Kamera zu begleiten und bei seiner Arbeit als Botschafter von Arbeitnehmern mit Behinderung zu unterstützen. Anfänglich war es schwierig, die Kamera zwischen uns zu vergessen, den Menschen «dahinter» kennenzulernen. Und als wir, wie in unserem Zeitplan vorgesehen, nach einem achtmonatigen Dreh mit dem Schnitt beginnen wollten, mussten wir feststellen: Noch immer kannten wir Nils Jent kaum. Zu facettenreich war seine Geschichte, zu wenig greifbar sein Alltag.

Wir entschieden uns, Nils und seine Mitmenschen ein weiteres Jahr zu begleiten, in guten wie in schwierigen Zeiten. Dabei haben wir von Nils gelernt, wie er geduldig zu sein, uns auch für scheinbar einfache Aufgaben die nötige Zeit zu nehmen und in kleinen, aber stetigen Schritten vorwärtszuschreiten, um unsere Ziele zu erreichen. Dies sind für uns persönlich die Kernthemen des Films: Wille, Optimismus und der Zwang zur Langsamkeit, ja die Notwendigkeit, sich Zeit zu nehmen. An der Universität wurde uns in der allerersten Vorlesung erklärt, dass in der Wirtschaftswelt nicht mehr das Credo gilt «Der Grosse frisst den Kleinen», sondern «Der Schnelle frisst den Langsamen.» In einer solch schnelllebigen Zeit, besonders an der Wirtschaftshochschule St. Gallen, war diese persönliche Entdeckung der Langsamkeit eine willkommene Abwechslung und bereichernde Entschleunigung.

Offizielle Film-Website: www.nilsjentfilm.ch/pages/home.php