Ursula - Leben im Anderswo

Ein Film, der uns nach Anderswo führt

Als Ursula Bodmer 1951 in  Zürich zur Welt kommt, bemerkt niemand etwas Aussergewöhnliches.Nach einiger Zeit jedoch zeigt sich, dass das Kind, dessen Mutter es gleich nach der Geburt verlassen hat, blind und taub ist. Ursula steht eine Heimkarriere bevor, und die Ärzte rechnen mit einer kurzen Lebensdauer. Doch allen Prognosen zum Trotz ist aus dem kleinen Mädchen von einst mittlerweile eine 60-jährige Frau geworden. Ein Wunder? Ja und nein. Vor fünf Jahrzehnten hat Anita Utzinger das Kind in ihre Obhut genommen. Seither findet sie als Pflegemutter mit ihrer Liebe den Zugang zu Ursulas rätselhafter Welt in «Anderswo».

Mitte der 60er-Jahre hat Rolf Lyssy am Dokumentarfilm «Ursula oder das unwerte Leben» von Reni Mertens und Walter Marti mitgewirkt. Vor einiger Zeit nun hat Lyssy Ursula und Anita Utzinger wieder besucht. Angesichts dieser Begegnung fragt es sich: Woher nimmt Ursula die Kraft zu leben? Und woher bekommt Anita Utzinger all die Jahre ihre Kraft für diese intensive Beziehung mit ihrem Schützling? Davon erzählt «Ursula – Leben in Anderswo»: in Filmausschnitten und andern Dokumenten von einst und in bewegenden Bildern von heute. Der Autor bringt eine Geschichte auf die Leinwand, in der eine tiefe menschliche Liebe letztlich die einzige Verbindung vom Hier zum Anderswo von Ursula ist, ihrem Universum ohne Bilder und Töne.

Wie selbstverständlich gehts vom Hier ins Anderswo

Ursula Bodmer und Anita Utzinger

Das Verdikt «Idiotie» der Medizin über Ursula ist brutal. Ursula Bodmer steht wegen «Bildungsunfähigkeit» eine hoffnungslose Heimkarriere bevor. Doch nur bis die in den USA frischgebackene junge Zürcher Heilpädagogin Anita Utzinger die sechsjährige Ursula in einem Heim entdeckt und zu einer andern Beurteilung kommt. Auch ein Leben als taubblinder Mensch ist förderbar, bildungsfähig, lebenswert. Und allen Prognosen zum Trotz hat das kleine Mädchen von einst mit seinen bloss drei Sinnen, dem Tastsinn, dem Geruchs- und Geschmackssinn, überlebt.

Ein Wunder? Ja und nein! Im Grunde genommen erzählt der Film eine einfache und doch komplizierte, eine selbstverständliche und doch ungewöhnliche Liebesgeschichte. Zuerst jene zwischen der heute über achtzig Jahre alten Pflegemutter Anita Utzinger und «ihrer» Ursula, für die sie seit einem halben Jahrhundert sorgt. «Ich würde es wieder machen … Ich bin reich geworden … Ich habe Heimweh», meint die bescheidene altes Frau. Weiter sind es die andern Menschen, die sich in den letzten fünfzig Jahren für die Förderung von Menschen wie Ursula engagiert haben, die solche Wunder bewirken. Und schliesslich ist es jene Beziehung zwischen Ursula und einer therapeutischen Institution wie der «Tanne», deren Betreuerinnen und Betreuer sich in den letzten Jahren der alternden Taubblinden liebevoll angenommen haben.

Seit Rolf Lyssy 1965 Ursula Bodmer beim Drehen des Dokumentarfilms «Ursula oder das unwerte Leben» zum ersten Mal begegnete, ist ihm das 14-jährige Mädchen ein Rätsel geblieben. Beim Dreh des neuen Films fast fünfzig Jahre später nicht anders. Ursulas Leben bleibt auch mit sechzig ein Geheimnis.

Schritt für Schritt allein im Anderswo

Anmerkungen des Regisseurs...

Als ich 1965 als Kameramann und Cutter bei «Ursula oder das unwerte Leben» mitarbeitete, lernte ich die 14-jährige Ursula kennen. Ein rätselhaftes menschliches Wesen, das mich sofort in seinen Bann zog. Zur ersten Begegnung mit Ursula war es so gekommen: Reni Mertens und Walter Marti drehten zusammen mit dem Kameramann Hans Peter Roth anfangs der 60er-Jahre Aufnahmen mit der damals prominenten, inzwischen längst als Pionierfrau der Heilpädagogik anerkannten und mit dem Ehrendoktortitel der Universität Zürich ausgezeichneten Mimi Scheiblauer (1891–1968). Sie hatten der weit über sechzigjährigen, energischen Frau bei ihrer musikalisch-rhythmischen Arbeit mit unterschiedlich behinderten Kindern zugeschaut.

Unter Mimi Scheiblauers Kindern war auch ein in sich versunkenes, hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren, schönen grossen Augen und wohlgeformten Ohren. Doch das kleine Mädchen, das aussah wie vier, war damals bereits 12-jährig und von Geburt an taubblind. Zusammen mit Mertens und Marti entschlossen wir uns, mit ihr und ihrer Pflegemutter zusätzliche Aufnahmen zu drehen und diese mit dem bestehenden Material zu einem Dokumentarfilm zu montieren. Im Herbst 1966 fand die Première statt, «Ursula oder das unwerte Leben» wurde zu einem unerwartet grossen Erfolg.

Im Frühling 2009 besuchte ich Ursulas Pflegemutter Anita Utzinger und es gab eine erste Wiederbegegnung mit der bald 60-jährigen Ursula, die nichts hört, nichts sieht und höchstens dann und wann einen undefinierbaren Laut von sich gibt. Damals wie heute ein grosses Rätsel, das ein Geheimnis, etwas Traumwandlerisches in sich birgt, dem nur menschliche Zuwendung folgen kann. Davon und noch von ein paar Dingen mehr im Zusammenhang mit dem Wert des Lebens berichtet «Ursula – Leben in Anderswo», 46 Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Menschen, die den Schwächsten in unserer Gesellschaft ihre Menschlichkeit entgegenbringen und dafür etwas zurückbekommen, das nur in Menschlichkeit zu bemessen ist.

Das vielsagende und vieldeutige Schlussbild

... und was der Film bei einem Kinogänger auslösen kann

Das erste Bild, die erste Sequenz eines Filmes führt (meist) in die Geschichte hinein; das letzte Bild, die letzte Sequenz weist (oft) darüber hinaus, auf die Botschaft des Autors. Bei «Ursula – Leben im Anderswo» wandert Ursula im Schlussbild in bordeauxroter Jacke und zinnoberrotem Hut vorsichtig, doch zielstrebig durch eine von Löwenzahl übersäte Wiese. Sie kommt uns näher, geht nicht weg (wie es in vielen berühmten Filmschlüssen vorkommt). Ursula geht, ist auf dem Weg, «on the road», als «homo viator», als Gehende, wie der Existenzialist Marcel Gabriel den Menschen definiert, was Rodin und Giacometti in Stein und Blei gestaltet haben. Im Anderswo und nicht im Hier. In einer andern Welt innerhalb unserer Welt. Auch wenn wir Ursula nicht verstehen und erklären können, spüren und erahnen wir, dass es dieses Anderswo gibt. Diese Welt etwas kennen zu lernen, dazu verhilft uns der Film.

Etwas Weiteres fällt mir bei diesem Film auf: dass es nämlich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Frauen sind, die in diesem Anderswo arbeiten, die wie selbstverständlich in beiden Welten, im Hier und im Anderswo daheim sind, beide miteinander verbinden. Wie himmelweit entfernt ist das im Film Gezeigte doch von der Welt der Männer: ihrem Machen, Leisten, Gewinnen, Kämpfen, Verdrängen, Siegen – und letztlich Erledigen, Umbringen, Töten. Hier im Anderswo wird geholfen, geduldet, gepflegt, gesorgt, behütet, ermuntert, unterstützt, gefördert, gefordert, berührt, gestreichelt, gelobt und geliebt.

Solche Gedanken sind mir wohl gekommen, weil die Filmemacher selbst mit grosser Behutsamkeit und Sorgfalt, mit Geduld und Anteilnahme an Ursula und die andern Menschen herangetreten sind. Das gilt für die einfühlsame Kamera von Elia Lyssy, die kluge Montage von Rainer M. Trinkler und für die Geschwister Küng mit ihrer Appenzeller Streichmusik, die fliessend von melancholischen Melodien zu heiter-hellen Ländlern wechselt, und Micha Bar-Am und Omri Hason an der Perkussion sowie Delia Mayer mit ihrer Stimme – alle vereint durch eine reife und doch neugierige, empathische und doch klare Führung von Regisseur Rolf Lyssy. Herzlichen Dank dafür, Rolf.