Utopia Blues

So leben, wie ich will, wie ich bin

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Der Film wurde an den 37. Solothurner Filmtagen als bester Schweizer Spielfilm des Jahres 2001 ausgezeichnet!

Der 10. 10. gilt weltweit als «Tag des psychisch kranken Menschen und der psychischen Gesundheit». Ruth Dreifuss dazu: «Psychische Leiden sind alltäglich, doch allzu oft tabu! Psychisch kranke Menschen brauchen aber unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass ihre Bedürfnisse gehört und respektiert werden.» Dafür gibt es diesen Tag mit seinen Aktivitäten. Die Website «www.psychischkrank.ch» gibt weiterführende Auskunft. – Zufällig startet in diesen Tagen ein Schweizer Spielfilm, der glaubwürdig, fundiert und meisterhaft das Thema erleben lässt und zur Diskussion stellt: «Utopie Blues» von Stefan Haupt.

Total leben oder total sterben! Nichts dazwischen!

Sein grösster Wunsch: als freier Musiker die Welt erobern. «Utopia Blues» erzählt vom Balanceakt eines Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, von seinem Versuch, den unbedingten Drang nach Freiheit mit den gesellschaftlichen Anforderungen in Einklang zu bringen.

Rafael Hasler ist 18-jährig, lebt mit seiner Mutter am Stadtrand von Zürich und müsste endlich für den Schulabschluss «büffern». Viel lieber aber will er mit seiner «Utopia Blues Band» durch die Welt ziehen, den grossen Durchbruch schaffen und kompromisslos das tun, was er für richtig hält: ungeduldig schlitzohrig, charmant und radikal. Doch seine Sehnsüchte und Ideale wachsen ihm über den Kopf, treiben ihn aus der Bahn, über die «Sicherheitslinie» hinaus. Eine abenteuerliche und schmerzhafte Zeit beginnt.

Berg- und Talfahrten

Eine spontane Strassenaktion eskaliert. Das Spiel weicht bitterem Ernst, die Ereignisse überschlagen sich: Uniformen, weisse Kittel, Ohnmachtsgefühle, Medikamente, die ihn entfremden und verstummen lassen. Nie mehr Musik, beschliesst Rafael. In der Abgeschiedenheit einer Heimschule auf dem Land trifft er seinen Freund und Bandkollegen Dani wieder: Auch ihm verweigert er vorerst eine Annäherung. Erst seine radikale Abgrenzung gegenüber seiner Mutter bewirkt, dass er erneut Mut fasst. Er setzt die Medikamente ab, beginnt wieder zu komponieren, verliebt sich. Die Aufführung seiner Rockoper wird zum Erfolg. Er schöpft wieder Hoffnung auf ein Leben nach seinen Vorstellungen.

Doch das Eis, auf dem er sich bewegt, ist dünn. Die Nachricht vom Tod seines heissgeliebten Grossvaters und die neue Beziehung seiner Mutter mit dem Mann, den ihr Rafael über ein Chiffreinserat ins Haus gelockt hat, treffen ihn zutiefst. Er erkennt, wie nahe Freiheit und Einsamkeit beieinander liegen, wie sehr er Angst vor dem Leben, vor sich selbst hat. Auf Messers Schneide zwischen Leben und Tod entscheidet Rafael, sich mit seinem ganzen Mut und seiner ganzen Radikalität ins Leben zu stürzen.

Eine wahre Geschichte

Das Drehbuch zum Film «Utopia Blues» beruht auf wahren Begebenheiten. Stefan Haupt – bisher bekannt als feinsinniger Dokumentarist – bekam von einer Frau einen autobiografischen Text, der ihm über Jahre hinweg keine Ruhe mehr liess. Es war ein 180-seitiges Manuskript über das Leben und Sterben ihres Sohnes Lucas. Dieser träumte vom Paradies auf Erden, wollte Berufsmusiker werden und mit seiner Musik die Welt verändern. Seine Geschichte verschmolz der Regisseur mit Erlebnissen aus dem Bekanntenkreis zur Filmfigur des Rafael.

Unsere Gesellschaft stellt – das macht der Film eindrücklich erlebbar – an die Heranwachsenden hohe Ansprüche: die strukturelle Gewalt einer immer komplexeren Welt, die schwindenden Freiräumen in Schule und Arbeit, das Verschwinden authentischer Gefühle und Erlebnisse. Wer mit den gesellschaftlichen Ansprüchen nicht mithalten kann oder will, taucht ab, verschwindet von der Bildfläche.

So leben, wie ich will, wie ich bin

«Mit seiner Lebenslust und seinem unbändigen Lebensdrang geht Rafael den radikal andern Weg», meint Stefan Haupt, «er will raus aus der Enge seiner Umgebung, er will sich seine Utopien und Träume erkämpfen. Und gerät prompt in Teufels Küche, da er seiner Umgebung je länger je mehr zu viel wird. Wie lange kann das gut gehen? Wie viel Toleranz darf erwartet werden? Und wann genau überschreitet Rafael jene ominöse Grenze zwischen «normal» und »krank»?»

Der englische Antipsychiater Ronald D. Laing hat auf den Punkt gebracht, was der Film uns suggeriert: «Krankheiten können auch gesunde Reaktionen auf kranke Verhältnisse sein.» Doch der Filmer macht es sich nicht leicht, zeichnet nicht schwarz-weiss: hier der gute Junge, dort die böse Gesellschaft, sondern zeigt beides möglichst differenziert und widersprüchlich.

Lieder, die weiter wirken

«Saras Song», ein Liebeslied, das Rafael für seine Freundin geschrieben hat, drückt seine Sehnsucht – und wohl auch jene unzähliger anderer Jungen – aus:

«Du wo gern an Himmel ufe luegsch
Du wo gern d Schtärne zellsch
Du wo tröimsch vonere andere Wält
Vonere Wält wos na niene gitt.»

Der Titelsong «Utopia Blues» umfasst die ganze Geschichte, steht für Anpassung, Umkehr, Anfang und Hoffnung:

«Vill z»lang hämmer gschwige
Vill z»lang hämmer gnickt
Vill z»lang hämmer das gmacht
Wo sich halt eso schickt
Doch jetzt wirds sich ändere
Ja jetzt boued mir
Es ganz nöis Läbe uf
Utopia isch nonig tot!
Utopia isch nonig tot!»

Ein künstlerisches und gesellschaftliches Ereignis

Ich kenne keinen aktuellen Film, der ebenso glaubwürdig, differenziert und vielschichtig den Zustand schildert, in dem sich viele junge Menschen heute befinden: zwischen «gesund» und «krank», zwischen «genial» und «verrückt». Und dies gelingt Stefan Haupt in seinem ersten Spielfilm auf eine leichthändige, unterhaltsame und dennoch ergreifende Weise. Er wird dabei unterstützt von grossartigen Schauspielern, Michael Finger als Rafael, Babett Arens als Mutter, Ettore Cella als Grossvater und der ganzen Crew, der mitreissenden Musik von Tino Ulrich und der präzisen Kameraarbeit von Stéphane Kuthy.

Michael Finger wurde an den 37. Solothurner Filmtagen als bester männlicher Darsteller in einem Schweizer Film des Jahres 2001 ausgezeichnet.

«Utopia Blues» ist ein Geschenk für junge Menschen, weil er diesen helfen kann, sich besser zu verstehen, ein Muss für ältere, weil er für diese erlebbar macht, wie schwierig das Leben Jugendlicher heute sein kann und dass es keine (von gewissen Kreisen immer wieder postulierten) einfachen Rezepte gibt. «Utopia Blues» ist ein künstlerisches und gesellschaftliches Ereignis!