Vaters Garten - Die Liebe meiner Eltern

Ein vielschichtiges Elternporträt. Im Film «Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern» erweitert Peter Liechti sein Elternporträt zum Familien- und zum Altersporträt. Eine sympathische und hochinteressante Widmung an die Achtzigjährigen, die sich aus einer Welt verabschieden, die längst nicht mehr die ihre ist.

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«Um Himmels willen, sind das Fragen!», rief die Mutter, als ihr Sohn, der Filmemacher Peter Liechti, das Gespräch mit ihr eröffnete. Über Jahrzehnte war man sich ausgewichen – und jetzt diese Nähe! Der Film «Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern» ist ein einfühlsames, komplexes Protokoll einer späten Wiederbegegnung des Autoren mit seinen alten Eltern und der Versuch einer persönlichen Auseinandersetzung mit ihnen. Dabei entstand ein Bild seiner Eltern, das gleichzeitig Einblick gewährt in eine vergangene Ära. Die Geschichte ihrer 63-jährigen Ehe berührt unabhängig davon als zeitloses Drama. «Wenn man hat, was man gerne mag, was willst du noch mehr? Ein normales Leben, könnte man sagen, ein ganz normales Leben», meint der Filmemacher über das Leben seiner Eltern. Einen Teil ihres Lebenskonzeptes sieht er in der Antwort, die der Vater ihm auf die Frage, wer von ihnen in dieser Wohnung bestimme, gab: «Dafür haben wir kein Reglement. Wir beraten uns gegenseitig. Und das, was mich überzeugt, das machen wir dann.»

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Eine Geschichte von verlorenen Eltern

«Ich hatte mich stets als Fremdling gefühlt in meiner Familie, bis ich fast schockartig bemerkte, wie ähnlich wir uns in Wirklichkeit sind. Je häufiger ich meine Eltern jetzt sehe, umso mehr rührt mich ihr hohes Alter, ihr langsames Verschwinden aus diesem Leben, das Einschlafen eines ganzen Erinnerungsreservoirs.» Der Film erzählt nicht die «Geschichte vom verlorenen Sohn», sondern eine «Geschichte von verlorenen Eltern».

Max und Hedi Liechti verweigern sich dem Computer, sie wollen nicht ins «Netz», sie denken nicht «global». Sie beklagen den allgemeinen Verlust an Identität und Freiheit, das Verschwinden von Respekt und moralischen Werten in unserer Gesellschaft. Sie repräsentieren das typisch schweizerische Kleinbürgertum. Ihre Ansichten sind konservativ. Lang war der Sohn und Filmemacher davon überzeugt, alles anders machen, denken und fühlen zu müssen als sie. Und heute ertappe er sich immer öfter dabei, wie er die «alten Werte» gegen die Vulgarität des zeitgenössischen Materialismus verteidigt.

«Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern» ist ein berührender und zugleich herausfordernder Liebesfilm jenseits von Romantik und Kitsch. Gleichzeitig geht es um die Verdichtung des Lebensgefühls einer ganzen Epoche, deren Ende längst eingeläutet wurde, und um die Reflexion des Gespaltenseins vieler Alt-68er. Für die Schilderung der intimen, fast schon «subkutanen» Themen dieser Familienbeziehung wurden unerwartete künstlerische Mittel eingesetzt: zwei und gelegentlich drei Hasen als Figuren eines Kaspertheaters. Liebenswürdige Angsthasen? Die Geister der Vergangenheit? Die Puppenbühne steht für die eigene Kinderstube und die kleinbürgerliche Enge, damals wie heute. Durch die Verschränkung von dokumentarischer Beobachtung und fiktionalem Familientribunal entsteht ein persönlicher Kosmos, in dem sich viele Zuschauerinnen und Zuschauer wiedererkennen dürften.

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Anmerkungen des Regisseurs

Peter Liechti hat 18 Experimental-, Dokumentar- und Spielfilme realisiert und ist Dozent an verschiedenen Filmausbildungsstätten. So weiss er wie nur wenige, was ein Film leisten kann, und kann dies wie nur wenige auch verständlich erklären. Deshalb übergebe ich ihm hier gerne für einige Anmerkungen das Wort:

«Alle Menschen kommen irgendwann in ihrem Leben an einen Punkt, wo die Eltern (auch die verstorbenen) wieder an Wichtigkeit gewinnen. Spätestens dann, wenn sie selber Kinder kriegen, oder wenn sie irgendwie Bilanz ziehen, eine Lebenskrise zu bewältigen haben, oder sich grundsätzlich neu ausrichten wollen. Plötzlich sind die Eltern wieder ein Thema, plötzlich besinnt man sich auf früher und sucht die Verbindung wieder herzustellen mit der eigenen Herkunft, mit den alten „Instanzen“. Nun bin ich endlich selbst hier angekommen. Wir stehen alle in einer langen Abfolge von Generationenwechseln, und jede Generation trägt die Errungenschaften, die Wertungen, Traumata und Utopien der vorhergehenden in sich. Deshalb muss uns auch daran gelegen sein, unsere eigenen Wurzeln zu kennen.

Ein Bruch mit der Kindheit, ein „Löschen“ der persönlichen Hintergründe macht uns zu Entwurzelten. In früheren Zeiten änderten sich die traditionellen Werte und gesellschaftlichen Verhältnisse nur langsam. Dementsprechend hatte man Zeit, zu lernen und zu verstehen. Sich an Neuerungen zu gewöhnen und sie in die eigene Welt zu integrieren. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten gründlich geändert. Die Generation der über 80-Jährigen hat im Verlauf eines einzigen Lebens derart massive Veränderungen und Paradigmenwechsel erfahren, dass sie gleichsam abgekoppelt ist vom heutigen Alltag. Die Alten verstehen nur noch das Wenigste von dem, was die junge Generation umtreibt, und die Jungen können sich die Zeit vor 60 Jahren kaum mehr vorstellen. Diesen Bruch empfinde ich als die radikalste Veränderung in der abendländischen Kultur seit ihrem Bestehen; der Riss geht mitten durch unsere Seelen. Bevor meine Eltern überhaupt Kenntnis genommen hatten von einer sogenannten „Moderne“ fanden sie sich bereits in der Zeit nach der „Post-Moderne“. Trotz oder gerade wegen ihrer kleinbürgerlichen Immunität gegen gewisse Zeitströmungen verkörpern sie das klassisch „abendländische“ Selbstverständnis ihrer Generation.»

Peter Liechti und seine Filme

Der Filmemacher Peter Liechti wurde 1951 in St. Gallen geboren. Dort machte er die Matura, begann ein Medizinstudium, brach es ab und studierte Kunstdidaktik und Kunstgeschichte. Seit 1986 ist er freischaffender Autor, Regisseur, Kameramann und Produzent sowie Dozent und Mentor an den Filmhochschulen von Zürich, Genf, Luzern, Lausanne und München sowie Dozent für Masterklassen in Hamburg, Capetown, Beijing, Dublin, Edinburg, Bochum und Buenos Aires. Liechtis Filme haben in der ganzen Welt zahlreiche Preise erhalten. Er ist an den Solothurner Filmtagen 2014 als Ehrengast eingeladen. Seine Filme:

1984 «Sommerhügel», Experimentalfilm, S-8, 45 min
1985 «Horizontal / Vertikal», Experimentalfilm, 8 min 
1986 «Ausflug ins Gebirg», Essay, S-8 und 16mm, 33 min 
1987 «Théâtre de l’espérance», Experimentalfilm/Essay, 16mm, 19 min 
1987 «Drei Kunst-Editionen», Art Video, 3 x 10 min 
1987 «Tauwetter», Essay, 8 min
1989 «Kick that habit», Musikfilm, 16mm, 45 min
1990 «Roman Signer, Zündschnur», Performance mit Roman Signer, Dokumentation, 26 min
1990 «Grimsel», Dokumentarfilm, Essay, 16mm, 50 min
1991 «A hole in the hat», Kunst-Video mit Nam June Paik & Voice Crack, 42 min
1995 «Signers Koffer», Dokumentar-Essay, 16/35mm, 80 min
1997 «Marthas Garten», Spielfilm, 35mm, 85 min
1999 «MSF - Médécins sans frontières», Dokumentarfilm, 6 min
2003 «Hans im Glück», Essay, 35mm, 90 min
2004 «Namibia Crossings», Roadmovie/Essay, 35mm, 92 min
2006 «Hardcore Chambermusic», Musikfilm, 35mm, 72 min
2009 «The sound of insects», Semifiction, 35mm, 88 min
2013 «Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern», Dokumentarfilm, 93 min

Regie: Peter Liechti   Produktion: 2013     Länge: 93   Verleih: LookNow