Virgin Tales
Auf einem Purity Ball
Evangelikale Christen in den USA rufen eine zweite sexuelle Revolution aus und propagieren Keuschheit als Gegenbewegung zu Gesinnungen und Praktiken der modernen Kultur. Der Film «Virgin Tales» von Mirjam von Arx schildert eine Musterfamilie dieser Bewegung.
Zugegeben, die heutige Sexualisierung der Gesellschaft kann Angst machen, ist an einem Punkt angelangt, von dem man gerne zurück möchte. Doch wie und wohin zurück? Die Schweizer Dokumentaristin hat in ihrem Film «Virgin Tales» eine ultrakonservative amerikanische Familie mit ihren Keuschheitsregeln porträtiert, der – auf unsere Situation übertragen und hinterfragt – sich auch als Beitrag zur aktuell geführten Diskussion der schulischen Sexualerziehung in der Schweiz eignet. Er schildert in hohem Masse objektiv und mit grosser Fairness, unvoreingenommen und respektvoll-zurückhaltend die Familie Wilson, die in den Staaten als Vorbild für die Purity Bewegung gilt.
Das ethisch-politische Umfeld der Bewegung darf nicht ausser Acht gelassen werden: Von den Jugendlichen wird Keuschheit bis zur Ehe verlangt. Homosexualität und Selbstbefriedigung gelten als Sünde. Die Anhänger der Purity Bewegung sind für die Todesstrafe, gegen die Abtreibung und gegen multikulturelle Entwicklungen. Die Bibel wird wörtlich genommen, so findet sich darin auch das Gebot der Jungfräulichkeit. Die Bewegung ist gegen die Evolutionslehre, 40 % der Amerikaner sind heute Kreationisten. Bereits eine Million Kinder werden in den Familien, nicht in Schulen unterrichtet. Einen ähnlichen Virginitätskult gibt es bei den ultraorthodoxen Muslimen und eine ähnliche Homosexualitätsverleugnung bei den ultraorthodoxen Juden: eine gemeinsame Tendenz der drei Schriftreligionen also.
Die Familie Wilson, die Musterfamilie der Bewegung
Eine zweite sexuelle Revolution
Mirjam von Arx hat zwei Jahre lang die evangelikale Familie Wilson, Vorbild und Motor der Purity Bewegung, begleitet und Randy, Lisa und ihren sieben Kindern in Colorado Springs mit grosser Anteilnahme und Fairness das Worte gegeben. Sie fanden sich ehrlich abgebildet; das Publikum kann sich eine eigene Meinung bilden. Das Porträt der Familie darf auch als Porträt der Bewegung verstanden werden. Es gelobt in den USA bereits jedes achte Mädchen, «unbefleckt» in die Ehe zu gehen. Familien in vierzig US-Staaten beteiligten sich an den Purity Balls, bei welchen die Väter für ihre Töchter, manche erst vierjährig, ein Jungfräulichkeitsgelübte ablegen, um so mit dem «Konzept Jungfräulichkeit» ihre evangelikale Utopie zu verwirklichen.
Randy Wilson, der Vorkämpfer der Bewegung
Die Anzahl Anhänger der internationalen Keuschheitsbewegung ist immens. Die World Evangelical Alliance vertritt nach eigenen Angaben 600 Millionen Christen in 128 Ländern. In den USA stellen die Evangelikalen bereits einen Viertel der Bevölkerung dar. In Deutschland sind es 1,3 Millionen, in der Schweiz etwa zwei Prozent, in gewissen Gebieten, Teilen des Emmentals oder Frutigtals, über 40 Prozent, Tendenz steigend. Gegen ein Viertel der US-Bevölkerung fühlt sich heute bereit, die zweite sexuelle Revolution auszurufen und setzt alles daran, die Jugend vor dem «Feind Sex» zu schützen.
Der politische Einfluss der neue Rechten, die mehrheitlich aus Evangelikalen besteht, wächst. Zu deren bekanntesten Vertretern in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart gehören Sarah Palin von der Tea Party, Michele Bachmann, eine vehemente Kritikerin Obamas, der ehemalige Präsident George W. Bush und der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney.
Tochter Lauren mit ihrem Mann, einem Berufsoffizier
«Anmerkungen der Regisseurin Mirjam von Arx» folgen in meiner Besprechung im Seniorweb am 5. Juni 2012.
«Keusch - und ein bisschen sexy. Wie Schweizer Evangelikale sexuelle Enthaltsamkeit predigen und ihre Moralvorstellungen gesetzlich verankern wollen» folgt in meiner Besprechung im Seniorweb am 5. Juni 2012.