Vitus

Bilder über eine Menschwerdung

Alle, die Fredi M. Murers Meisterwerk «Höhenfeuer» im Kino oder Fernsehen gesehen und lieb gewonnen haben, werden auch bei seinem neuen Film «Vitus» auf die Rechnung kommen. Ein genialer Unterhaltungsfilm mit Tiefgang! Vielleicht ist es die Weisheit des heute 65-jähigen Filmemachers, die das Werk so leicht und freundlich daher kommen lässt.

Wer sich in der heutigen Bildungsdiskussion etwas auskennt, erlebt den ersten Teil des Films wie eine fundierte, witzige und provokative Auseinandersetzung mit der Schule, durchgespielt am Beispiel eines so genannt hochbegabten Kindes. Er zeigt, wie hilflos wir oft mit der «Heterogenität umgehen». Üblich ist das Schema F, auf jede Frage gibt es eine Antwort, alle Kinder sind gleich und damit basta.

Sehnsüchtig nach dem Leben

Der hochbegabte Vitus, als 6-Jähriger gespielt von Fabrizio Borsani, als 12-Jähriger von Teo Gheorghiu, einem wirklichen Wunderkind, müsste sich bloss in die Arme der Normalität flüchten, dann hätte er seine Ruhe. Doch ihm gelingt es, eine Doppelrolle zu spielen. Allein schon seine Präsenz stellt die konkreten Zustände immer wieder in Frage, wirkt wie ein Katalysator der so genannten Normalität. Doch Vitus gelingt es zu überleben, zu leben. Untergründig zehrt er wohl von der «Sehnsucht des Lebens nach sich selbst» (Murer). Diese erweitert denn auch den Film weit über die pädagogische Fachdiskussion zu einer Geschichte, die alle angeht.

Der Traum vom Fliegen

Allein jedoch kann auch Vitus, kann niemand glücklich werden. Ihm hilft sein Grossvater, ein «Gebrauchtsphilosoph». Welch herrliche Wortschöpfung, die den aktuell wuchernden Akademismus der Lächerlichkeit preisgibt! Die Figur des Grossvaters, eine Meisterrolle von Bruno Ganz, bildet den Gegenpol zur Welt der Anpassung, des Reglements, der Gleichmacherei. Die beiden brauchen sich gegenseitig, ähnlich wie in Chaplins «Limelight» die Tänzerin Terry und der Clown Calvero. Mit diesem Paar schenkt uns Fredi Murer eine wunderbare Generationen-Parabel, einen künstlerischen Entwurf für einen neuen Generationenvertrag, den gegenwärtig die Politik zu formulieren nicht im Stande zu sein scheint.

Wie einst Ikarus zur Sonne fliegen wollte, versucht es Vitus auf seine Art. Und auch er stürzt ab. Zum Glück; sein Sturz verhilft ihm zu einem normalen Leben. – Filmgewohnte werden sich bei den Flugszenen an Yves Yersins «Petites fugues» erinnern, wo Pipe ebenfalls in die Lüfte abhebt. Hier wie dort geht es um das Lebendig-Werden, das Frei-Werden, «das Leben vor dem Tod» (Samuel Beckett).

Musik und andere Geschenke

Der dramaturgische Knoten des Films stellt die Sonderbegabung von Vitus dar. Er ist nicht nur ein Computerfreak, sondern vor allem ein begnadeter Pianist, der in der Zürcher Tonhalle realiter mit Bravour das Klavierkonzert in a-Moll von Schumann interpretiert hat. Nicht zufällig wählte Murer die Musik als die die Normalität sprengende Sonderqualifikation. Der positive Einfluss der Musik auf die menschliche Entwicklung, seine Mensch-Werdung, ist heute erkannt, wird jedoch nicht angemessen genutzt. – Ein Film, der in eine ähnliche Richtung zielt, kommt einem in den Sinn: «Rhythm is it!» über das Education-Projekt der Berliner Philharmoniker unter Leitung von Sir Simon Rattle mit dem Choreografen Royston Maldoom. Auch dort reifen junge Menschen mit der Musik heran, kommen zu sich, werden lebendige Menschen.

Nicht zufällig ist wohl auch die Tatsache zu werten, dass der Vater sein Geld mit der Entwicklung von Hörgeräten verdient, der Sohn mit seinem absoluten Musikgehör und seiner exzellenten Interpretation eine andere Bedeutung des Tones als Musik verkörpert. Viele andere kleine Szenen rufen Lächeln und Schmunzeln hervor und beschenken uns mit unerwarteten Einsichten und Erkenntnissen. So sagt mir etwa die kurze Schilderung der Verwaltungssitzung der Phonaxis mehr über die innere Dynamik solcher Gremien aus als der ganze Pseudo-Dokumentarismus von «Grounding».

Ein modernes Märchen

Unweigerlich drängt sich einem der Vergleich von «Höhenfeuer» und «VITUS» auf. Für mich war der erste Film ein Werk höchster Konzentration und Verdichtung, der neue ein Werk der Offenheit, der dahinströmt und schliesslich in ein Meer mäandert, in dem Dokumentation und Märchen sich in der Poesie vereinen. Hier feiert sich der «homo ludens» (Johan Huizinga) in Bildern, Ideen, Worten aufs Allerschönste.

Gottlob hat Murer allen Unbilden zum Trotz den Film in dieser Form vollendet: ein Werk, das uns bestens unterhält, uns lebensnotwendigen «Unterhalt» bietet für unsere Seelen, für alte und für junge. «Alle grossen Leute sind einmal Kinder gewesen, aber nur wenige erinnern sich daran», schreibt Antoine de Saint-Exupéry im Vorwort zum «Kleinen Prinzen». Diesen Satz möchte ich auch «VITUS» voranstellen.

PS Die Vitusmacher

Rolf Lyssy, ein langjähriger Weggefährte von Fredi M. Murer, hat die Dreharbeiten für «VITUS» begleitet und, oberflächlich betrachtet, darüber ein «Making off» gedreht. Doch seinem grossen Einfühlungsvermögen und seiner seelischen Verwandtschaft mit Murer ist es zu verdanken, dass der einstündige Dokumentarfilm mehr wurde, nämlich eine Liebeserklärung an das Filmemachen und das künstlerische Schaffen generell.