Vol spécial

Menschen im Ausschaffungsgefängnis: Nachdem Fernand Melgar 2008 im Dokumentarfilm «La forteresse»* die Bedingungen in einem Schweizer Empfangszentrum für Asylbewerber aufgezeigt hat, lenkt der Regisseur 2011 mit seinem Nachfolgewerk «Vol spécial» den Fokus auf das Ende des Migrationsparcours.

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Wandifa, Häftling Nummer 1126: «Ich habe nicht getan. Sie haben mich verhaftet, ich hatte keine Papiere. Ich bin seit über einem Jahr hier eingesperrt.»

Wohin Rassismus und verschärfte Ausländerpolitik führen

Im Dokumentarfilm «Vol spécial» (Ausschaffungsflug) warten Sans-Papiers und abgewiesene Asylsuchende im Gefängnis auf ihre Ausschaffung. Mit einem negativen Asylentscheid werden sie gezwungen, die Schweiz zu verlassen, einige von ihnen haben Jahre im Land verbracht, gearbeitet, Steuern bezahlt und eine Familie gegründet. Auf der einen Seite der Konfliktparteien stehen vor allem gestandene Männer, die ihre Aufgabe als Aufseher mit grosser Menschlichkeit erfüllen, auf der andern meist junge Männer, die durch die Ungewissheit in Angst und Stress versetzt sind. Das Klima untereinander ist von Freundschaft oder Hass, Respekt oder Auflehnung geprägt. Doch die Ankündigung der Ausschaffung trifft jeden wie ein Faustschlag, und die Beziehungen enden meist in Verzweiflung. Wer sich gegen den Transport wehrt, wird gefesselt und mit Gewalt ins Flugzeug gesetzt.

Der mehrfach ausgezeichnete Filmemacher Fernand Melgar begab sich mit seiner Crew für neun Monate ins Ausschaffungsgefängnis Frambois in Genf, eines der 28 Deportationszentren für Sans-Papiers und abgewiesene Asylbewerber. Das Bundesgesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht erlaubt die Inhaftierung von irregulären Ausländern, Männern und Frauen ab 15 Jahren, bis maximal 18 Monate. In dieser Zeit warten sie auf ihre Aufnahme oder Abschiebung, die dann meist ohne Vorwarnung erfolgt. Wenige Schweizerinnen und Schweizer waren sich wohl dieser Tatsache bewusst, als sie sich 1994 bei der Abstimmung für das Gesetz aussprachen. Gerade deshalb erscheint mir der Film politisch wichtig, weil er wenigstens im Nachhinein die damalige Abstimmung in Frage stellt und für die Zukunft Einsichten und Erfahrungen vermittelt, die zu neuen und besseren Erkenntnissen und Entscheidungen führen könnten.

Ein Film über die aktuelle politische Situation

Dem Regisseur gelingt mit «Vol spécial» ein informatives und emotionales Porträt der Gefangenen in den Ausschaffungsgefängnissen und der belasteten Beziehungen zwischen ihnen und dem Personal: Tatbestände, die sich die breite Bevölkerung kaum vorstellen kann. Er schafft auf vorbildliche Weise das, was in der privaten und öffentlichen Diskussion heute meist vernachlässigt wird: nämlich Offenheit, hinzuhören und hinzusehen, Bereitschaft, zu differenzieren und zu analysieren, und Mut, die gezeigten Schicksale an sich herankommen zu lassen. Der Film ist das Gegenteil von dem, was uns von den Plakatwänden entgegen schreit! Er ist das eindrückliche Dokument eines Humanismus, der die Schweiz einmal ausgezeichnet hat, der im heutigen Klima der populistischen Propaganda, des kurzzeitigen Egoismus, des wachsenden Rassismus, ja eines neuen Faschismus unterzugehen droht.

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Alain, Häftling Nummer 1253: «Ich bin ein Gewerkschafter, ich werde in meiner Heimat von der Polizei gesucht. Doch hier habe ich das Leben im Gefängnis kennen gelernt. Es ist die Schweiz, die mich fesselte und meinen Peinigern auslieferte.»

Interview mit dem Regisseur Fernand Melgar

Weshalb greifen Sie noch einmal das Thema Asyl auf?

Anlässlich der Diskussionen im Anschluss an Vorführungen von «La forteresse» war ich verblüfft, wie stark die Zuschauer die dramatischen Konsequenzen ignorieren, die sich aus den konstanten Verschärfungen der Asyl- und Ausländergesetze für die direkt betroffenen Menschen ergeben. Ich glaube, dass die Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr wissen, worüber sie abstimmen. Der Populismus der SVP-Kampagnen macht sie blind und schürt die Xenophobie. Bei den Schulvorführungen hat sich herausgestellt, dass der Begriff Asylbewerber für die Mehrheit der Jugendlichen ein Synonym für Straffälligkeit und Sozialmissbrauch ist. Entsprechend sind für sie Inhaftierung und Ausschaffung eine logische Konsequenz. Es erschien mir wichtig, in einem neuen Film die verkannte Realität der Administrativhaft und der gewaltsamen Ausschaffungen zu zeigen.

«Vol spécial» thematisiert auch das Schicksal von Sans-Papiers…

In der Schweiz leben 150'000 Sans-Papiers. Die grosse Mehrheit von ihnen arbeitet, zahlt Steuern und Beiträge in die Sozialversicherungen. Sie kümmern sich um ältere Leute, betreuen unsere Kinder, putzen unsere Wohnungen und unsere Spitäler. Ohne sie müssten nicht wenige Hotels und Baustellen infolge Mangels an billigen Arbeitskräften schliessen. Asylbewerber, auf deren Gesuch nicht eingetreten wurde, und Sans-Papiers haben eines gemeinsam: Sie leben alle mit einem Damoklesschwert über ihrem Kopf. Jeden Moment können sie angehalten und eingesperrt werden, für Monate oder Jahre, mit dem Ziel, sie aus der Schweiz auszuschaffen, ohne Prozess. Oder sie werden absurderweise freigelassen, nur um einige Monate später erneut aufgegriffen zu werden. Ich will und muss die im Empfangszentrum Vallorbe («La Forteresse») entstandene Arbeit weiterführen, um diesen Weg der Balance zwischen Hoffnung und Verzweiflung besser zu verstehen, der das Schicksal so vieler Migranten prägt.

Wie sind Sie auf das Gefängnis von Frambois gekommen?

Während der Dreharbeiten zu «La forteresse» freundete ich mich mit Fahad an, einem jungen, mit dem Tod bedrohten irakischen Übersetzer, der in der Schweiz Schutz suchte. Unmittelbar nach der Ablehnung seines Antrags wurde er verhaftet und in Ausschaffungshaft genommen. Als ich ihn in Frambois besuchte, wurde ich mit einer Angst konfrontiert, die ich in unserem Land bis dahin noch nie gesehen hatte. Fahad erzählte mir von seinen Gefährten im Unglück: unschuldigen Männern, deren Leben durch die Verhaftung zerstört war, von ihren Kindern getrennten Vätern, illegalen Arbeitern in von jahrelanger Arbeit geschundenen Körpern und jungen, suizidgefährdeten Männern. Alle gebrochen auf ihrer Suche nach einem besseren Leben. Sie alle wurden wie Verbrecher behandelt, obwohl ihr einziges Vergehen darin bestand, nicht im Besitz einer Schweizer Aufenthaltsbewilligung zu sein. Einige von ihnen waren seit Monaten eingesperrt, obwohl ihre Heimatländer mit der Schweiz kein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen hatten. Sie waren der Willkür einer kantonalen Immigrationsbehörde ausgeliefert. Einige Monate später war ich Zeuge der schockierend brutalen Abschiebung Fahads mit einem Ausschaffungsflug. Sechs Zürcher Polizisten erschienen mitten in der Nacht in seiner Zelle, fesselten ihn und nahmen in mit. Er wurde misshandelt und erniedrigt und litt für lange Zeit an den psychischen und physischen Folgen.

Wie kamen Sie zur Drehgenehmigung für diesen Ort?

Frambois ist ein gemeinsames Zentrum für Administrativhaft der Kantone Genf, Neuchâtel und Waadt. Ich nahm mit den zuständigen Staatsräten Kontakt auf und gewann nach langen Diskussionen ihr Vertrauen. Sie sind der Meinung, dass «La forteresse» eine nützliche öffentliche Diskussion ermöglicht hat und halten es für notwendig, diese Arbeit um die Themen Asyl und Migration jenseits eines populistischen Diskurses weiterzuführen. Ich erhielt von ihnen und von der Verwaltung von Frambois die notwendigen Bewilligungen, um uneingeschränkt sowohl den Alltag in Frambois als auch den juristischen Apparat und die Arbeit der betroffenen Kantonspolizei zu filmen.

Wie haben Sie die Insassen dazu gebracht, sich Ihnen gegenüber zu öffnen?

Ich verbrachte vor Beginn der Dreharbeiten viel Zeit in Frambois. Dabei lernte ich auch die Insassen kennen, und mit der Zeit gewann ich ihr Vertrauen. Sie fühlten sich rebellisch und von der Aussenwelt vergessen und fast alle waren bereit, im Film mitzuwirken. Sie wussten, dass sich dadurch ihre individuelle Situation nicht verändern würde. Aber sie konnten sich auf diesem Weg Gehör verschaffen und von einer Situation erzählen, die sie als unfair betrachteten.

Und das Personal von Frambois?

Der Direktor von Frambois war sofort einverstanden und ermutigte sein Team, das Projekt zu unterstützen. Er hat es sogar gegenüber seinen Vorgesetzen verteidigt. Gefängnisaufseher erscheinen oft in einem negativen Licht. Er selbst ist aber der Meinung, dass diese Aufseher eine wichtige Arbeit für die Gesellschaft in einem sehr schwierigen Umfeld ausführen. Der Film war für ihn die Gelegenheit, ihre Arbeit zu präsentieren. Was das Personal betrifft, hat sie meine objektive Einstellung in «La forteresse» motiviert, im Film mitzuwirken.

Welcher Moment während der Dreharbeiten hat Sie am stärksten geprägt?

Wir verstanden uns mit fast allen Insassen sehr gut. Wir verbrachten mehrere Monate mit ihnen und kannten ihre Geschichten, ihre Familien und ihre Ängste. Als die Polizei nach Frambois kam, um sie in einem Ausschaffungsflug abzuschieben, waren wir zwar mit unserer Kamera dabei, aber verabschieden konnten wir uns nicht von ihnen. Die letzten verzweifelten Blicke verfolgen mich noch heute.

Warum zeigen Sie in Ihrem Film keine Bilder von gefesselten Insassen, oder davon, wie sie mit Gewalt ausgeschafft werden?

Die Haft ist Sache der Kantone, während die Ausschaffungsflüge in die Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration (BfM) fallen. Entsprechend habe ich beim BfM um die Erlaubnis gebeten, die Insassen auch am Flughafen filmen zu können, bevor sie mit Ketten gefesselt an Bord gebracht werden. Zunächst erhielt ich aber keine Antwort. Nach mehrmaligem Nachfragen teilte mir die Pressestelle des BfM mit, dass es aufgrund einer Bundesverordnung verboten sei, einen Menschen in einer erniedrigenden oder entwürdigenden Situation zu filmen. Diese Antwort fand ich absurd, besonders angesichts der Tatsache, dass mir die zu Deportierenden die Erlaubnis gegeben hatten. Ich verlangte eine Kopie dieser Verordnung. Darauf warte ich heute noch.

Dabei hatte Ihnen das BfM die Drehbewilligung für «La forteresse» noch erlaubt…

Richtig. Aber zu meinem grossen Erstaunen informierte mich der Kommunikationschef des BfM, mittlerweile die rechte Hand von Bundesrätin Widmer-Schlumpf, dass er sehr bedauere, mir damals die Dreherlaubnis zu «La forteresse» gegeben zu haben.

Wissen Sie, was aus den ausgeschafften Insassen geworden ist?

Nach jedem Ausschaffungsflug riefen wir sie an, um zu erfahren, wie die Reise war. Alle ihre Aussagen waren überwältigend. Nicht nur fühlten sie sich aus der Schweiz hinausgeworfen wie Abfallsäcke, sie litten auch unter den physischen und psychischen Folgen der Erfahrungen. Einige wurden von der Polizei ihrer Heimatländer verhaftet oder ausgeraubt, manchmal vor den Augen der mitgereisten Schweizer Vertreter. Wir entschieden uns daraufhin, sie in ihrer Heimat zu besuchen und ihr Leben nach der Deportation zu filmen. Diese Portraits werden 2012 als Web-Dokumentarfilm zu sehen sein, koproduziert von RTS und ARTE.

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Serge, Häftling Nummer 1256: «Man tötet uns in aller Stille.»

Was ist aus den Ausgeschafften geworden?

Geordry, Sohn eines ermordeten Oppositionschefs, floh aus Kamerun in die Schweiz, wo er Asyl beantragte. Seine Angaben zur Verfolgung wurden als nicht glaubwürdig eingestuft. Nach dem negativen Entscheid wurde er in Frambois eingesperrt und schliesslich mit einem Ausschaffungsflug nach Yaoundé deportiert. Kurz nach seiner Ankunft wurde er verhaftet und ins Gefängnis Kondengue gebracht, eine Anstalt berüchtigt für ihre Folterpraktiken. Aus unerklärlichen Gründen übergab die Schweiz belastendes Beweismaterial aus Geordrys Asylantrag an die Behörden in Kamerun.

Ragip lebte und arbeitete über 20 Jahre als Saisonnier in der Schweiz und bezahlte Steuern und die Beiträge an die Sozialversicherung. Nach seiner Deportation mit einem Ausschaffungsflug zerriss ihn die Sorge um Frau und die drei Kinder, die in der Schweiz im Versteckten weiterleben mussten. Auf Wunsch der Genfer Immigrationsbehörde, welche auch die restliche Familie ausschaffen wollte, übergab das Erziehungsdepartment ohne zu zögern die Adresse seiner Kinder, die in eine öffentliche Schule gingen.

Jeton ist ein Roma-Flüchtling aus Deutschland. Er wurde in der Schweiz wegen irregulärem Aufenthalt anlässlich seiner Hochzeitsvorbereitungen verhaftet. Nach dem Tod eines Nigerianers wurden die Ausschaffungsflüge vorübergehend eingestellt und Jeton freigelassen. Im Dezember 2010 heiratete er seine Frau im letztmöglichen Moment, denn seit 1. Januar 2011 verbietet die Schweiz die Heirat von Sans-Papiers auf ihrem Territorium, auch mit einem Schweizer Partner. Er profitierte nun vom Familiennachzug und erhielt eine provisorische Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz.

Serges Asylantrag wurde abgelehnt und er wurde mit einem Ausschaffungsflug nach Kinshasa abgeschoben, wo er von der Polizei ausgeraubt wurde. Traumatisiert und ohne Geld und Familie lebt Serge in grossem Elend. Seit über einem Jahr versucht er über die Schweizer Botschaft die während seines Aufenthalts einbezahlten Sozialversicherungsbeiträge zurückzuerhalten. Er hat keine Nachricht von seiner Tochter, die in der Schweiz verblieben ist.

Julius erwähnte während der Ausschaffung gegenüber den mit der Fesselung beauftragten Zürcher Polizisten wiederholt, dass er Knieprobleme habe. Nach dem Tod des Nigerianers, der neben ihm gestorben war, wurde Julius freigelassen. Er leidet unter schweren körperlichen Folgen seiner zu engen Fesseln. Ausserdem riss eine Sehne an seinem Knie. Ende 2010 wurde er zum ersten Mal operiert, aber womöglich bleibt er für immer teilweise behindert.

Alain, ein bedrohter Gewerkschafter, floh aus der Demokratischen Republik Kongo nach Genf und beantragte bei seiner Ankunft Asyl. Er wird die Schweiz nie anders als durch vergitterte Fenster sehen. Zunächst wurde er während des Verfahrens zwei Monate am Flughafen eingesperrt. Nach seinem negativen Bescheid wurde er nach Frambois verlegt. Nach seiner Ausschaffung acht Monate später flüchtete er nach Angola. Gemäss seinen Angaben übergab die Schweizer Polizei seine Asylakten mit kompromittierenden Informationen über sich und seine Familie an die Kongolesischen Behörden.

* «La forteresse» ist bei Looknow als DVD erhältlich.

Verleih: www.looknow.ch/index.asp

Trailer: www.youtube.com/watch?v=SS9CWESMHUI