Von heute auf morgen

Der Dokumentarfilm «Von heute auf morgen» von Frank Matter porträtiert auf humorvolle, bewegende und zum Nachfragen anregende Weise vier alte Menschen im Umfeld der Spitex.

Ihr Alltag ist voller Hindernisse: Frau Fröhlich verlegt regelmässig ihr Hörgerät und protestiert gegen die Ermahnungen des Pflegepersonals. Herr Jeker weigert sich, zum Coiffeur zu gehen oder seine Wohnung aufzuräumen. Frau Willen isst einfachheitshalber auch mal aus der Pfanne und Frau Hofmann befürchtet, nie wieder ein Konzert ihres Lieblingssängers besuchen zu können. Und alle wehren sich vehement gegen ein Abschieben ins Altersheim. Mit dem Film «Von heute auf morgen» behandelt der Basler Frank Matter diese ernsten Themen des Alterns mit Frische, Empathie und einer gehörigen Portion Schalk. Gleichzeitig schildert er die engagierte Arbeit der Frauen und Männer in der Spitex der Gemeinden Allschwil und Schönenbuch (BL).

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Monique Hofmann geniesst auch behindert ihre Autonomie.

Gesellschaftliche Themen des Älterwerdens an vier alten Menschen …

Überalterung, Sparzwang im Gesundheitswesen, Zerfall der Familienstrukturen: Themen, über die seit Jahrzehnten viel diskutiert wird. Doch was verbergen sich im Leben hinter solchen Schlagworten für Schicksale? Und was bedeutet Altwerden grundsätzlich in unserer hektischen, individualisierten und auf Erfolg getrimmten Zeit? Der Film erzählt die berührenden Geschichten von alten Menschen, die mit Witz, beissendem Humor und einer gehörigen Portion Sturheit um Würde, Selbstbestimmung und einen glücklichen Lebensabend kämpfen. Mithilfe von Betreuungsdiensten wie der Spitex können immer mehr Menschen bis ins hohe Alter zu Hause bleiben. In der eigenen Wohnung fühlen sich die meisten geborgen und bewahren bis zu einem gewissen Grad ihre Unabhängigkeit. Sie bestimmen ihren Tagesablauf selber und sind umgeben von den vertrauten Dingen, die sich im Lauf des Lebens angesammelt haben. Ins Altersheim ziehen sie erst, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Die oft polarisierende Diskussion «Leben in den eigenen vier Wänden» gegen «Leben im Altersheim» wird in diesem Film einfühlsam und differenziert an Beispielen erlebbar gemacht.

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Silvan Jeker wehrt sich gegen mehr Ordnung in seiner Wohnung.

… und in der Arbeit der Spitex aufgezeigt.

Der Film begleitet drei Frauen und einen Mann durch den Alltag und beobachtet, wie sie sich gegen den zunehmenden Verlust von Autonomie wehren. Die 94-jährige Elisabeth Willen fühlt sich oft sehr einsam. Dennoch kann sie sich nicht vorstellen, ihr schönes Haus mit der Aussicht ins Grüne zu verlassen. Ihre Angehörigen und die Mitarbeiter der Spitex müssen ihr beibringen, dass genau dies unausweichlich ist. Doch so einfach lässt sie sich nicht davon überzeugen umzuziehen. Monique Hofmann träumt davon, ihren Lieblingsschlagersänger Rudy Giovannini wenigstens noch ein Mal persönlich zu treffen. Ihre schwere Krankheit macht es allerdings immer unwahrscheinlich, dass dieser Traum in Erfüllung geht. Trotzdem gibt sie die Hoffnung nicht auf. Silvan Jeker und Anny Fröhlich haben grosse Mühe damit, dass sie mehr und mehr auf Hilfe angewiesen sind. Um ihre Autonomie zu verteidigen, leisten sie passiven und aktiven Widerstand gegen die Menschen, die ihnen helfen möchten.

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Frau Fröhlich fühlt sich oft einsam und muss schliesslich ins Altersheim.

Die Angehörigen sind von den Ansprüchen ihrer betagten Verwandten oft überfordert, oder sie sind zu sehr mit ihrem eigenen hektischen Leben beschäftigt. Auch deren Situation schildert der Film, ohne dafür fertige Lösungen anzubieten. Für viele alte Menschen sind jedoch die Mitarbeitenden der Spitex die wichtigste Brücke zur Aussenwelt. Die Pflegerinnen und Pfleger besuchen sie täglich, decken ihre medizinischen Bedürfnisse ab und helfen ihnen beim Saubermachen, Waschen und Anziehen. Die Spitex verwaltet die alten Menschen im Auftrag der Gesellschaft. Im Gegensatz zu den Betagten, die ihrer Situation auf eine zutiefst existenzielle Weise ausgeliefert sind, ist es für die Pflegenden ein Job, ein Beruf, in vielen Fällen eine Berufung. Eine Arbeit, von der sie sich nicht unterkriegen lassen dürfen, wollen sie ihre Arbeit gut machen. Die Gratwanderung zwischen professionellem Arbeiten und menschlichen Gefühlen ist alles andere als einfach, zumal die Pfleger und Pflegerinnen einem immer stärkeren Spar- und damit Zeitdruck ausgesetzt sind. Oft stehen die Interessen der Individuen gegen jene der zahlenden Gesellschaft.

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Frau Willen im Gespräch mit ihrem Nachbarn.

Der unterhaltsam und dennoch ernsthafte Film erzählt von Alltagsritualen, von den kleinen und grossen Kämpfen, von Momenten der Trauer und der Freude, von Hilflosigkeit, Melancholie und den schönen Erinnerungen, die das Leben ausmachen. Immer wieder bringen einen die betagten Protagonisten mit ihrem beissenden Witz und ihrem trotzigen Humor zum Lachen. Doch gelegentlich bleibt einem dieses Lachen auch im Hals stecken – wenn es uns in unserem Leben trifft. Letztlich dringt «Von heute auf morgen» zu existenziellen Fragen vor, die nicht nur alte Menschen betreffen, sondern uns alle: Was bedeutet Autonomie? Haben wir die Freiheit anderer Menschen zu respektieren, wenn wir glauben, dass sie nicht mehr selber entscheiden können, was für sie gut ist? Wie machen wir das Unausweichliche akzeptierbar und das Unerträgliche erträglich? Was bedeutet es, in einer Gesellschaft zu leben, in der immer grössere Bereiche der zwischenmenschlichen Beziehungen zur bezahlten Dienstleistung werden? Frank Matters Film gibt darauf keine Antworten, sondern erzählt Geschichten, die das Leben schrieb.

Interview mit Frank Matter von Susanna Petrin, BZ Basel, 5. 6. 2013

Haben Sie Angst vor dem Altwerden?
Nicht gerade Angst. Natürlich sehe ich, dass mit dem Älterwerden die Energie sinkt, man vieles langsamer angehen muss. Aber ich bin erst 49.

Sie haben sich durch Ihren Film «Von heute auf morgen» intensiv mit dem Altsein beschäftigt. Hat sich Ihre Haltung dazu seither verändert?
Ich hatte mich vorher nie so richtig mit dem Älterwerden befasst. Für diesen Film musste ich das. Im ersten Moment dachte ich: Oje, wie wird das wohl, wenn ich mal so alt bin? Aber mit den Dreharbeiten wuchs meine Gelassenheit. Ich habe gesehen, wie viel Humor und Lebensfreude auch Hochbetagte noch haben.

Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit dem Leben alter Menschen zu befassen?
Der Basler Filmemacher Peter Aschwanden war mit diesem Thema an mich herangetreten. Es war für ihn aus persönlichen Gründen aktuell. Als wir gerade mit den Recherchen fertig waren, starb Peter Aschwanden völlig unerwartet. Nach einigem Überlegen habe ich beschlossen, das Projekt alleine weiterzuführen. Der Film ist ihm gewidmet.

Es war also eigentlich Aschwandens Thema. Wie haben Sie es zu Ihrem gemacht? Was ist anders?
Jeder Filmemacher hat seinen eigenen Stil und eine andere Art, die Beziehungen zu den Protagonisten aufzubauen. Peter wollte sich ursprünglich stärker auf den erhöhten Stress und die Ansprüche des Pflegeberufs konzentrieren. Ich verlagerte den Schwerpunkt auf die alten Menschen.

Wie haben Sie Ihre vier Protagonisten ausgewählt?
Wir haben zuerst rund ein Jahr immer wieder die Spitex Allschwil-Schönenbuch bei ihren Besuchen begleitet. Insgesamt habe ich 40 bis 50 Leute kennengelernt. Als wir fragten, wer bereit wäre mitzumachen, waren es bis auf zwei, drei Ausnahmen alle. Das hat mich sehr überrascht bei diesem intimen Thema. Bei der Wahl der Protagonisten spielten meine Intuition und die persönliche Beziehung eine grosse Rolle. Und mir war wichtig, dass es nicht nur ein trauriger Film wird. Deshalb habe ich Menschen gesucht, die Humor haben und Kämpfer sind; die trotz ihrer schwierigen Situation nicht aufgeben im Leben, so wie Frau Hofmann.

Wie haben Sie das Vertrauen dieser vier Menschen gewonnen?
Das war einfacher, als ich gedacht hatte. Die alten Menschen waren sehr offen. Sie hatten Freude daran, dass etwas läuft und man sie ernst nimmt, sich wirklich für ihr Leben und ihre Situation interessiert. Auch bei der Spitex war eine grosse Bereitschaft da, über ein Thema zu reden, das sonst gern ausgeblendet wird.

Sie durften auch intime Szenen filmen, die Vier liessen Sie nah ran.
Ich kannte diese Menschen bereits seit einem Jahr, als wir das erste Mal mit der Kamera auftauchten. Ausserdem haben wir mit einer kleinen, feinfühligen Crew und kleinen Kameras gearbeitet. Das war künstlerisch ein Kompromiss, der aber viel zur Authentizität des Films beiträgt. Ausserdem wurde mir bewusst, dass alte Menschen, vielleicht weil sie schon so viel erlebt haben, gelassener sind und beim Gefilmt Werden nicht mehr jedes Detail kontrollieren wollen.

Man erfährt viel über diese vier Menschen, aber die ganz persönlichen Lebensgeschichten und Gedanken kommen nur am Rand vor.

Das war ein bewusster Entscheid. Es gibt viele biografische Filme, in denen alte Menschen von ihrer Vergangenheit erzählen. Aber man weiss relativ wenig über den aktuellen Alltag alter Leute. Ausserdem habe ich den Protagonisten versprochen, dass sie mitbestimmen dürfen, worüber sie sprechen möchten. Ich stellte ihnen Fragen, aber ich drängte sie nie zu Antworten. Manchmal sagen Blicke und Gesten mehr. So merkt man, wenn jemand Angst vor der Einsamkeit hat oder sich von der Familie verlassen fühlt, ohne dass es deutlich ausgesprochen werden muss.

Wie hat der Film den vier gefallen?
Das müssten Sie sie selber fragen. Elisabeth Willen etwa habe ich den Film im Altersheim gezeigt, und sie war wahnsinnig berührt, weil sie sich wieder an ihre Zeit in ihrem schönen Haus erinnert fühlte. Silvan Jeker, der zur Premiere nach Solothurn reiste, wartet nun auf einen Anruf aus Hollywood. Ich habe das Gefühl, dass er während der Dreharbeiten aufgeblüht ist. Auch ein alter Mensch kann sich noch verändern.

Der Film handelt auch von der Situation der Spitex-Angestellten, die immer stärker unter finanziellem und damit zeitlichem Druck stehen. Das rasante Tempo, das sie anschlagen müssen, passt nicht zum langsamen Rhythmus der alten Menschen.

Das ist eines der zentralen Anliegen des Films – ohne dass wir jetzt einen politischen Thesen-Film machen wollten. Wir haben nur beobachtet, was passiert, wenn alte, pflegebedürftige Leute und die Betreuerinnen der Spitex sich begegnen. Wie beeinflussen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen das Verhältnis? Wie bleibt eine Pflegerin unter dem enormen Kosten- und Zeitdruck menschlich?

Die Spitex-Angestellten kommen sympathisch rüber, doch manche neigen dazu, die alten Leute ein wenig wie Kinder zu behandeln.

Der Grat zwischen Hilfe und Bevormundung ist schmal. Einerseits neigen die Pflegenden manchmal aus praktikablen Gründen dazu, ein wenig bevormundend zu sein. Anderseits ist es schon so, dass manche alten Menschen nicht in jeder Situation voll urteilsfähig sind. Sie vergessen etwa oft, ihre Medikamente zu nehmen.

Eine Art Running Gag ist Silvan Jekers Coach-Tischchen. Ständig wird er von den Spitex-Frauen ermahnt, es aufzuräumen. Was geht es diese Frauen an, wenn dieser mündige, erwachsene Mann ein wenig Unordnung hat.

Es ist interessant, wie unterschiedlich die Zuschauer auf diese Szenen reagieren. Ich verstehe auch hier beide Seiten. Die Spitex erlebt, dass Unordnung schnell in Verwahrlosung kippen kann.

Es gibt einen Fall, bei dem eine Spitex-Angestellte in einen Distanzwahrungs-Kurs geschickt wurde, weil sie eine alte Frau umarmt hat.

Ich kenne den Fall nicht, das scheint mir etwas extrem. Doch grundsätzlich ist es wichtig für die Betreuer, dass sie sich nicht überidentifizieren mit den Klienten, denn sonst frisst einen dieser anstrengende Job auf.

Sie zeigen Menschen mit Witz und Lebensfreude. Aber es wird auch klar, dass sie oft einsam und in ihrer Freiheit eingeschränkt sind.

Uns war wichtig, alle Facetten ihres Lebens zu zeigen, die düsteren und die fröhlichen. Wir wollten das Thema Altsein nicht verharmlosen.

Machten Sie die Dreharbeiten nicht traurig?

Manchmal schon. Ich habe bei den Recherchen auch Menschen gesehen, die sehr einsam in völlig verwahrlosten Wohnungen lebten. Aber mir wurde klar: Es gibt auch im Leben sehr alter, gebrechlicher Menschen viele schöne Momente.

Haushalten und Wohnen im Alter – im historischen Wandel von François Höpflinger (Textauszug)

Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts blieben die (Alters-)Heime Verwahranstalten mit «Insassen». Ab den 1960er-Jahren wurde die Pflege ausgebaut, weil sich aufgrund der wirtschaftlichen Lage die Anforderungen verschoben: Anstelle von armen kamen vermehrt pflegebedürftige alte Menschen. Die ersten Pflegeheime orientierten sich baulich sehr stark an Krankenhäusern. Erst ab den 1980er-Jahren wurden Pflege und Wohnen stärker verbunden. Im Heim sollte nicht nur gepflegt, sondern auch gewohnt werden. Ab Ende der 1980er-Jahre entstanden erste Pflegewohngruppen, die sich an quasi-familialen Leitbildern des Wohnens im kleinen Rahmen ausrichteten. Für Wohlhabende entstanden eigentliche Seniorenresidenzen. Während sich 1973 die stationären Plätze für alte Menschen zu 71% auf Altersheime und zu 29% auf Pflegeheime verteilten, leben heute nur noch rund 3% der Heimbewohner in eigentlichen Altersheimen ohne Pflegestrukturen. Die stationären Alters- und Pflegeangebote wurden stark ausgebaut und der Anteil der 80-jährigen und älteren Menschen in Alters- und Pflegeheimen stieg in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von weniger als 18% (1970) auf 22% (2000) an.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts zeigt sich insofern eine Trendwende, als der Anteil der 80-jährigen und älteren Menschen, die stationär betreut und gepflegt werden, wieder sank (bis 2008 auf rund 18%). Ein Ausbau der ambulanten Pflege (Spitex), neue Wohnformen, wie betreutes Wohnen, und mehr altersgerechte, hindernisfreie Wohnungen tragen dazu bei, dass alte Menschen auch bei Pflegebedürftigkeit länger selbstständig haushalten und wohnen können. Gleichzeitig haben die allermeisten Alters- und Pflegeheime, dank offener Strukturen, den Charakter als Anstalten weitgehend hinter sich gelassen, auch wenn Bilder einer Anstalt die öffentliche Wahrnehmung von Alters- und Pflegeheimen weiterhin prägen.

Die Verschiebung vom Alters-zum Pflegeheim hat nicht nur demografische Gründe (Anstieg in der Zahl sehr alter Menschen mit erhöhtem Pflegebedarf), sondern ist eng mit der Entwicklung der Altersvorsorge verbunden. Dank ausgebauter Altersvorsorge können alte Menschen sich nicht nur länger privat versorgen oder privates Wohnen mit ambulanten Dienstleistungen kombinieren, sondern geniessen häufig auch eine längere behinderungsfreie Lebenserwartung. (...) Individualisierungstendenzen bestimmen auch das Wohnen im Alter; ein Prozess, der eng mit dem Ausbau einer existenzsichernden Altersvorsorge verbunden ist. Dank verbesserter wirtschaftlicher Situation profitieren viele ältere und alte Menschen von einer Wohnqualität, von der Menschen in anderen Ländern nur träumen können. Gleichzeitig hat sich das schon früher vorherrschende Prinzip von «Intimität auf Abstand» (gute Generationenbeziehungen, gerade weil jede Generation ihren selbstständigen Lebens- und Wohnraum geniesst) weiter durchgesetzt. Getrenntes Wohnen und Haushalten von Jung und Alt ist kein Hinweis auf einen Zerfall der Familiensolidarität, sondern in modernen Gesellschaften eine zentrale Bedingung für gute intergenerationelle Beziehungsqualität.

Quelle: Haushalten und Wohnen im Alter – im historischen Wandel von François Höpflinger, Age Dossier: Wohnen im Alter: gestern – heute - morgen, Jubiläumsausgabe 2012.

Regie: Frank Matter  Produktion: 2013  Länge 95 min Verleih: cineworx.ch