Vor der Morgenröte

Verzweifelt am NS-Deutschland: Stefan Zweig, der Jude, Schriftsteller, Humanist und Pazifist, erhält von Maria Schrader mit ihrem Spielfilm «Vor der Morgenröte» ein Dokument, das von der Vergangenheit erzählt, aber ins Heute weist.
Vor der Morgenröte

Das Ehepaar Zweig blickt in eine neue Welt

Stefan Zweig (1881 – 1942) gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts. Gemeinsam mit Thomas Mann war er in den Dreissigerjahren der meist übersetzte Autor. 1934 verliess der Jude, Schriftsteller, Humanist und Pazifist Österreich, um ins Exil zu gehen, aus dem er nie zurückkehrte. Schon damals sah er den Niedergang Europas voraus und litt darunter. Selbst die Gastfreundschaft in Brasilien und seine weltweite Anerkennung ersetzten ihm niemals seine Heimat.

Der fein beobachtende und psychologisch spannende Spielfilm «Vor der Morgenröte» schildert in sechs Episoden das Leben von Stefan Zweig zwischen 1936 bis 1942 in Nord- und Südamerika. Die vor allem als Schauspielerin bekannte, 1965 in Hannover geborene Regisseurin Maria Schrader und ihr Co-Drehbuchautor Jan Schomburg schufen mit diesem dokumentarischen, akribisch recherchierten Spielfilm ein reifes, vielschichtiges Werk von hohem politischem und moralischem Ernst.

Das ist grosses Schauspielerkino! Vorab durch Joseph Hader als Stefan Zweig, in der Schwebe zwischen Bei-sich-Sein und des Neben-sich-Stehen. Ebenbürtig durch Barbara Sukowa als seine erste, Aenne Schwarz als seine zweite Frau und durch ein Ensemble von ausgezeichnet gecasteten und geführten Darstellerinnen und Darstellern. Brillant auch die Kameraarbeit von Wolfgang Thaler, die dem Film die angemessene Eleganz verleiht.

Aus der «Welt von gestern» in «ein Land der Zukunft», Rio de Janeiro im August 1936

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Stefan Zweig mit seiner zweiten Ehefrau Lotte

Im exklusiven Jockey Club in Rio de Janeiro wird Stefan Zweig wie ein Staatsmann mit allen Ehren von der brasilianischen Hautevolee empfangen. Der 54-jährige Österreicher ist weltweit gefeiert, allein zur Lesung am Vorabend sind mehr als 2000 Menschen gekommen. Brasiliens Aussenminister stellt den berühmten Gast den Honoratioren des Landes vor. Man versammelt sich um eine riesige Tafel, so üppig mit tropischen Blumen geschmückt, als wolle man dem Europäer, der aus der «Welt von gestern» in das «Land der Zukunft» geflohen ist, die Vielfalt und Schönheit Brasiliens präsentieren.

Stefan Zweig steht unter grossem Druck: Er, der nicht mehr im nationalsozialistischen Deutschland publizieren darf und 1934 in London vorübergehend Exil gefunden hat, ist hier von einer Gesellschaftsform überwältigt, in der ein friedliches Zusammenleben verschiedener Rassen, Hautfarben und Religionen zu gelingen scheint. Brasilien mit seiner multikulturellen Gesellschaft bedeutet für ihn Zukunft, Friede und Toleranz, beispielhaft für den Rest der Welt.

Buenos Aires im September 1936: Mitleid und Wut, doch ohne Pathos und Aggression

Der PEN-Kongress vom 5. bis 15. September 1936 in Buenos Aires ist das Ereignis jener Tage. Hier versammeln sich 80 Autoren aus 50 Nationen und diskutieren über die Stellung des Schriftstellers in der Gesellschaft und über den aufkommenden Faschismus. Stefan Zweig ist der Ehrengast. Eine internationale Runde renommierter Journalisten erwartet ihn zum Interview, unter ihnen der Jude Joseph Brainin, der darauf drängt, eine druckreife Verurteilung des Hitlerregimes zu erhalten. Zweig weigert sich, dieser Forderung nachzukommen. Er besteht darauf, dass ein Künstler die Errungenschaft geistiger und kommunikativer Differenzierung zu verteidigen habe und allein durch sein Werk Wirkung erziele. Er könne der Radikalität seiner Gegner als Pazifist und Intellektueller nicht mit derselben Weise begegnen. «Ich werde nicht gegen Deutschland sprechen. Ich würde nie gegen ein Land sprechen und mache keine Ausnahme. Ich kann und werde nicht  auf der andern Seite der Welt und in einem Raum voll Gleichgesinnter ein Urteil sprechen.» Nebenan hält Emil Ludwig eine Wutrede gegen Nazi-Deutschland, und der belgische Schriftsteller Luis Pierard verliest die Namen verfolgter und exilierter deutschsprachiger Schriftsteller, während das Publikum sich wie zu einer Andacht erhebt. Zweig ist diese pathetische Geste, die nichts kostet und zudem wirkungslos ist, unangenehm.

Im Einsatz für Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland, in Bahia und New York, Januar 1941

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Friderike, seine erste Ehefrau, engagiert sich in New York

Seit Monaten ist Stefan Zweig mit seiner zweiten Frau Lotte auf Vortragsreisen durch Südamerika. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs müssen sie ihr Haus in London aufgegeben und sind jetzt heimatlos. Sie wollen nach New York, wohin Lottes Nichte geflohen ist. Auf dem Weg formuliert Zweig Telegramme und nutzt seine Verbindungen zu den Botschaftern Südamerikas, um Freunden und Kollegen zur Flucht aus Europa zu verhelfen. Der Gedanke an den Krieg und die Vernichtung seiner geografischen und geistigen Heimat wird sein ständiger Begleiter.

Stefan und Lotte kommen im tiefsten Winter nach New York, in eine Wohnung im Greenwich Village. Zum ersten Mal seit neun Monaten sieht er seine geschiedene Frau Friderike wieder, mit der er zwanzig Jahre zusammengelebt hat. Im Gegensatz zur jungen und treu ergebenen Lotte hat Friderike ihm durch ihre Lebenstüchtigkeit und ihren selbstständigen Geist Unterstützung und Schutz geboten. Nur wenige Wochen zuvor ist ihr, gemeinsam mit zwei Töchtern aus erster Ehe, die Flucht in die USA gelungen. Sie übergibt ihm einen Stapel Bittbriefe aus Europa. Angesichts des Leids, der stetig wachsenden Zahl von Menschen, die sich in ihrer Not an ihn wenden und nicht zuletzt der vielen bereits gestorbenen Freunde, schwankt er zwischen Verzweiflung und Ohnmacht. «Ein halber Kontinent würde auf einen anderen flüchten, wenn er könnte». – Nur der Gedanke an ein ungestörtes Arbeiten beflügelt ihn, er plant, dass nicht nur das Brasilienbuch in fünf Sprachen erscheinen, sondern auch das autobiografische Werk «Die Welt von Gestern» fertig werden kann.

Verzweifelt, ohne Hoffnung auf Frieden, Petrópolis vom November 1941 bis 22. Februar 1942

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Stefan Zweig in Petrópolis: heimatlos

Das Paar verlässt die Vereinigten Staaten und zieht nach Petrópolis, inmitten tropischer Vegetation. «Die Welt von Gestern» ist abgeschlossen, das Brasilienbuch erschienen. An seinem sechzigsten Geburtstag trifft er einen alten Bekannten, Ernst Feder, einen deutsch-jüdischen Schriftsteller und ehemaligen Ressortleiter des «Berliner Tageblatts», der auch hier lebt. Darüber hellt sich seine Miene kurz auf. Beim Blick auf die paradiesische Landschaft kann er jedoch seinen wirklichen Gemütszustand nicht verbergen: Eine tiefe Verzweiflung hat von ihm Besitz ergriffen. «Wie sollen wir das nur aushalten?», fragt Zweig Feder und erwartet keine Antwort. Schweigend und hilflos stehen die beiden am Rand des Dschungels, Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt, wissend, dass dort ihren Verwandten und Freunden der Tod droht und ihre Kultur zerstört wird. Er hat keine Hoffnung mehr auf Frieden, nirgends gibt es Opposition gegen den Krieg. Er blickt in den Abgrund der beginnenden europäischen Katastrophe. Feder bemüht sich, Zweigs Depression zu zerstreuen, er verspricht, als Recherche für dessen geplante «Schachnovelle», mit ihm Schach zu spielen.

Wie der Film eröffnet wurde, so schliesst er mit einer langen und intensiven Sequenz: mit dem im Spiegel gezeigten abgedunkelten Schlafzimmer der Zweigs, auf dem Bett Stefan und Lotte, leblos, in erstarrter Umarmung. Die Nachricht des Doppelselbstmordes spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Seine Freunde treffen ein. Ernst Feder wird gebeten, den Anwesenden Zweigs Abschiedsbrief vorzulesen, der wie folgt endet: «Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen Sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.»

Von heute aus gesehen, ist es wohl unmöglich, bei diesem Film nicht an die Millionen Flüchtlinge der Gegenwart zu denken, und wie Europa mit ihnen umgeht. Insofern ist «Vor der Morgenröte» von Maria Schrader, ganz im Sinne Stefan Zweigs, eine eindrückliche Rückschau, die sich jedoch in die Gegenwart hinein öffnet und herausfordert. «Wer die Vergangenheit nicht versteht, versteht nichts wirklich», meint Stefan Zweig. Dem ist in Bezug auf die aktuelle Diskussion um Flüchtlinge und Asylanten wohl nichts hinzuzufügen.

Regie: Maria Schrader, Produktion: 2016, Länge: 116 min, Verleih: Filmcoopi