Vous n'aurez pas ma haine
Antoine, allein mit Melvil
Paris, 13. November 2015. Ein ganz normaler Morgen. Antoine Leiris (Pierre Deladonchamps) und seine Frau Hélène liegen im Bett. Auf einmal steht ihr zweijähriger Sohn Melvil (Zoé Iorio), vor ihnen. Er ist auf der Suche nach seinem Kuscheltier. Mit der trauten Zweisamkeit ist es vorbei. Der Alltag ruft. Frühstück, Arbeit. Beim Anziehen entspinnt sich zwischen dem Paar ein kleiner Streit um den geplanten Korsika-Urlaub. Die beiden beschliessen, ihren Disput zu vertagen. Hélène macht sich auf den Weg, winkt fröhlich aus dem Auto.
Wieder zu Hause freut sie sich abends auf das Konzert der «Eagles of Death Metal» im Club «Bataclan», schminkt sich, schlüpft in ein rotes Top und eine schwarze Lederjacke, sieht hinreissend aus und stürzt aus der Wohnung. Freund Bruno, ihr Begleiter, wartet auf der Strasse. In der Eile hat sie den Autoschlüssel vergessen, Antoine wirft ihn vom Fenster aus ihr zu. Das wird das letzte Mal sein, dass er seine Frau lebend gesehen hat.
Dann schrecken IS-Attentate ganz Paris auf, beginnt ein Chaos in der Stadt. Was jetzt im Film «Vous n'avez pas ma haine» von Kilian Reidhof abläuft, ist ein spannender Thriller darüber, wie Antoine, zusammen mit Melvil, mit Familie und Freunden von Hélènes Tod erfahren und dann Stunde um Stunde, Tag um Tag den Schock, die Trauer, die Wut in einem dramatischen inneren Kampf und einem alltäglichen äusseren Weiterfunktionieren durchstehen – und dabei dem Hass nicht mit Hass begegnen.
Hélène und Antoine in der letzten Nacht
Wie es zum Film kam – Antworten aus einem Interview mit dem Regisseur
(Zu Hintergrund und Entstehung des Films gibt das integrale Interview im Anhang interessante Auskünfte.)
Wie sind Sie auf das Buch von Antoine Leiris gestossen? Das Buch war eine Empfehlung meiner Tante. Ich habe es in einem Rutsch gelesen und war tief bewegt. So bewegt wie selten nach einer Lektüre. Vielleicht, weil die Lebenssituation von Antoine vor dem Anschlag so eng an meinem eigenen Leben ist – meine Tochter ist fast im selben Alter wie Melvil. Tags darauf habe ich meinen Co-Autoren Jan Braren und Marc Blöbaum von der Geschichte erzählt. Erst sollte ich ihnen ein paar Absätze daraus vorlesen, schliesslich das ganze Buch. Die beiden hatten Tränen in den Augen. Da wussten wir, dass wir das machen müssen.
Was hat Sie letztendlich dazu bewogen, es zu verfilmen? Ich fragte mich natürlich: Wie wäre es, wenn mir das passieren würde. Ein Angriff auf den inneren Kern meines Lebens, auf meine Familie. Auf das Liebste und Intimste. Diese Vorstellung ist schrecklich. Aber sie hat mich nicht mehr losgelassen. Das war wie ein unausweichlicher Sog.
Wie nahe sind Sie an der Vorlage geblieben und wo haben Sie sich Freiheiten erlaubt? Unsere Perspektive war die eines mitfühlenden Freundes. Wir wollten dicht an der originalen Erzählung von Antoine Leiris bleiben. Ihren Ablauf zu verändern, hätte sich unlauter angefühlt. Antoines Geschichte ist sehr poetisch, sehr fein und rührend. Wir mussten also äusserst behutsam mit ihr umgehen. Wir haben seinen Text, da wo nötig, in eine dramatische Form gebracht. Der Nebenstrang mit seiner Familie kam als fiktionales Element hinzu, um Antoines innere Transformation erlebbar zu machen.
Der islamistische Terror ist im Wortsinn vermintes Terrain. Was gilt es zu beachten, wenn man sich mit dem Thema filmisch auseinandersetzt? Uns ging es darum, den Tätern nicht mehr Raum als nötig zuzugestehen. Antoines berühmter Brief an die Attentäter versagt sich gerade dem Impuls, Hass mit Hass zu begegnen. Es wäre also falsch gewesen, den Tätern innerhalb der Handlung eine Bühne zu geben, ihre Gewalt aus Spannungsgründen auszustellen. Das wäre gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen geradezu ein Vergehen gewesen. Unser Film zeigt die Innensicht eines Menschen, dessen Frau ermordet wurde. Dies war für uns der einzig denkbare Ansatz, über den Anschlag auf das «Bataclan» zu erzählen.
Am Tag nach dem Attentat in Paris
Was wir mit dem Film machen können – ein Vorschlag
Nach der Sichtung von «Vous n'aurez pas ma haine» (Meinen Hass bekommt ihr nicht) kam mir der Gedanke, einmal anders als üblich an den Film heranzugehen, was ich Ihnen hier auch vorschlage: Einfach mal fragen, was bei mir angekommen ist, im Kopf und im Herzen und dies auf uns einwirken zu lassen, wahrzunehmen als eine fremde Wahrheit, hinzuschauen und hinzuhören. Das dürfe bei jedem und jeder anders aussehen, dieses Entsetzen, diese Trauer, diese Wut, dieser Schmerz, gelegentlich sogar Atem und Puls verändernd.
Das heisst, das, was bei uns angekommen ist, aushalten und ertragen. Das ist das andere Filmerlebnis! Ausgehend von der Feststellung, dass «der Film in mir», nur zum einen Teil von den Film-Produzenten stammt, zum andern von uns, den Film-Rezipienten. Jetzt über Einstellungen, Montage, Kameraschwenks, Dramaturgie, Cadrage, Soundmix oder die Leistungen der Protagonist:innen diskutieren, scheint mir abwegig, führt weg von dem, was nach meiner Meinung zählt.
Wenn wir jetzt das, was wir gesehen, gehört, erlebt haben, mit Mitmenschen, die den Film ebenfalls gesehen haben und ähnlich an ihn herangegangen sind, austausche, entstehen vielleicht emotionale Gemeinsamkeiten, ästhetische Schnittmengen. Damit kommen wir, uns gegenseitig respektierend, vielleicht langsam an das, was die Filmschaffenden beabsichtigt haben – und irgendwann, wenn wir Glück haben, auch an das, was der Film, was jedes Kunstwerk uns offenbart: hinter einem Leben das Leben, hinter einer Welt die Welt.
Kilian Reidhof, der Regisseur, meint in einem Interview: «Filme sind für mich emotionale, im besten Fall körperliche Erfahrungen.» Wenn der Filmemacher, der seine Geschichte mit filmischen Mitteln erzählt und dabei von Emotionen und körperlichen Erfahrungen spricht, bedeutet das wohl auch für uns, dass wir den Film auf diese Weise angehen dürfen, können, sollen. Vielleicht kommen wir dann wie der Buch- und der Filmautor zum Schluss, was Antoine in seinem Post im Internet schreibt: «Mein Sohn und ich, wir sind stärker als alle Armeen der Welt.»
Vater und Sohn zutiefst betroffen
Was geschah am 13. November 2015 in Paris – nach Wikipedia
Die Terroranschläge in Paris am Freitag, dem 13. November 2015, waren koordinierte, islamistisch motivierte Attentate an fünf verschiedenen Orten im 10. und 11. Pariser Arrondissement sowie in der Umgebung des Stade de France im Vorort Saint-Denis. Nach Angaben der französischen Regierung wurden 130 Menschen getötet und 683 verletzt, darunter mindestens 97 schwer. Sieben der Attentäter in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren Attacken starben, ebenso der mutmassliche Drahtzieher der Anschläge, Abdelhamid Abaaoud, wenige Tage später bei einer Razzia im Vorort Saint-Denis. Zu den Anschlägen bekannte sich die terroristische Vereinigung Islamischer Staat. Die Angriffsserie am Freitagabend richtete sich gegen die Zuschauer eines Fussballspiels, gegen die Besucher eines Rockkonzerts im «Bataclan» sowie gegen die Gäste zahlreicher Bars, Cafés und Restaurants. Es handelte sich um mehrere Schusswaffenattentate, ein Massaker mit Geiselnahme sowie sechs Detonationen, die von Selbstmordattentätern mit Sprengstoffwesten ausgelöst wurden. Der Schock verbreitete sich in ganz Paris, in Frankreich, weltweit.
Nach den Attentaten verhängte die Regierung Valls den Ausnahmezustand und rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Präsident François Hollande sprach von einem kriegerischen Akt und kündigte einen entschiedenen Kampf gegen den Terror an. Am 17. November 2015 beantragte Frankreich als erstes Land in der Geschichte der Europäischen Union den Beistand der anderen EU-Staaten im Rahmen der Regelungen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Gespräch mit Kilian Reidhof, dem Regisseur von «Vous n'avez pas ma haine»