Wanda, mein Wunder

Ein Schweizer Filmwunder: Bettina Oberli hat mit «Wanda, mein Wunder», zusammen mit einem ausgezeichneten Team, eine «Comédie très humaine» geschaffen, die gut unterhält und zwischenmenschliche Konflikte ins Visier nimmt und klärt.
Wanda, mein Wunder

Die Crew von «Wanda, mein Wunder»

Für die wohlhabende und angesehene Familie Wegmeister-Gloor war nach dem Schlaganfall des betagten Familienoberhaupts klar: Josef wird nicht in ein Pflegeheim eingewiesen, zu lieblos wäre das. Stattdessen wurde die junge Polin Wanda eingestellt, um ihn daheim im Familienanwesen am See rund um die Uhr zu betreuen. Eine praktische und günstige Lösung, die zudem noch wohltätig ist gegenüber der polnischen Frau, die hier mehr verdient als in ihrem Land. Mit Gregi, dem Sohn des Familien-Clans, versteht sich Wanda gut, offensichtlich hat er sich ein bisschen in sie verguckt. Seine Schwester Sophie, die in einer Ehekrise steckt, interessiert sich für Wanda nur als Pflege- und Putzkraft. Und Josefs Frau Elsa ist froh um die Hilfe und lächelt jeden Konflikt weg.

Wanda erledigt die anfallenden Arbeiten zuverlässig und freundlich. Josef vergöttert sie als seine Pflegerin, aber auch als attraktive, herzliche Frau, die zuhause zwei Buben und Eltern hat. Josef geniesst die intime Nähe Wandas, sie wiederum schätzt seine Dankbarkeit und Zuneigung, und wenn er ihr eine grosse Note zusteckt, wird aus der Intimwäsche kurzer, unsentimentaler Sex. Davon weiss niemand in der Familie. Gregi hofft vergeblich, Wandas Herz zu gewinnen, worauf Josef eifersüchtig reagiert. Sophie ist eifersüchtig auf die Nähe, die Wanda, im Gegensatz zu ihr, mit ihrem Vater erlebt. Dann wird Wanda unerwartet schwanger, von Josef. Die Familie reagiert entsetzt. Die starren Strukturen, die das Leben der Wegmeister-Gloors schon immer bestimmt haben, beginnen zu bröckeln. Lange schwelende Konflikte brechen aus und Vorwürfe werden laut. Und doch kommen sich die Familienmitglieder in diesem ganzen emotionalen Chaos wieder näher.

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Josef (André Jung), zwischen Elsa (Marthe Keller) und Wanda (Agnieszka Grochowska)

Oberlis «Comédie très humaine»

Ein Glücksfall, der neue Film von Bettina Oberli! 2006 hat sie mit «Herbstzeitlosen» und mit fünf weiteren Spielfilmen die Schweizer Filmszene bereichert. «Wanda, mein Wunder» überzeugt mich, weil er perfekt mit vielfältigen Überraschungen unterhält und gleichzeitig uns Zuschauer*innen mit Reminiszenzen aus unserem Leben konfrontiert. Das ist nicht selbstverständlich, sondern das Produkt einer menschlich und cineastisch reifen Persönlichkeit, der Regisseurin und Drehbuchautorin, zusammen mit Cooky Zische als Co-Autorin, Judith Kaufmann an der Kamera, Kaya Inan mit dem Schnitt, Erol Sarp und Luks Vogel mit der Musik und dem Können und der Spielfreude der exzellenten Schauspieler*innen.

Oberli unterhält uns im ursprünglichen Sinn des Wortes: Sie spendet der Seele und dem Geist der Zuschauer*innen wertvolle Nahrung und lässt gleichzeitig ahnen, was im Plot und im Leben Sinn macht. So im letzten Satz des Films, wenn Elsa Wanda nachrennt und ruft: «Es ist genug Platz in unserem Haus». In diesem Satz ist der offene Ausgang angedeutet, wenn auch die finanziellen, juristischen, politischen Implikationen, die im Untergrund der Geschichte schwelen, bloss angetippt, nicht ausgewalzt sind. Das scheint mir ein wesentliches Verdienst von «Wanda, mein Wunder» zu sein: Der Film gibt nicht vor, Lösungen der Familienkonflikte und Weltprobleme zu kennen; er weist uns in die richtige Richtung zum Weiterdenken und Sinnieren. – Die nachfolgenden Auszüge aus einem Interview mit der Regisseurin beschreiben, was vor dem Dreh unternommen wurde, bis dieser schöne und wertvolle Film entstehen konnte.

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Wanda, schwanger von Josef

Interview mit der Regisseurin

Familie: Man kann es nicht mit ihr, aber auch nicht ohne sie.

Familie ist ein Motiv, das ich in meinen Filmen immer wieder aufgreife: Was hat es mit diesem seltsamen Mikrokosmos auf sich, dieser genetisch zufällig zusammengewürfelten Familienbande, in der man sich geborgen fühlt oder eingeengt? Die Familie ist ein weites erzählerisches Feld, und jeder kann sich irgendwo hineinfühlen, weil jeder eine Familie hat. Die Wegmeister-Gloors werden hart geprüft, es entstehen tiefe Risse, und es kommen unangenehme Tatsachen auf den Tisch. Alle Mitglieder sind gezwungen, sich ehrlich zu begegnen. Das ist befreiend, manchmal lustig, aber teilweise auch schmerzhaft. Die Familie bricht beinahe auseinander. Dennoch ist «Wanda, mein Wunder» für mich ein Film über das Näherkommen.

In diesem Film haben Sie das aktuelle Thema der Care-Migration aufgegriffen. Wieso gerade dieses Thema?

In der Schweiz boomt der Markt für ambulante Pflege. Agenturen werben mit «Günstig, fürsorglich, warmherzig und rund um die Uhr für Sie da!», um Pflegehilfen aus Osteuropa zu vermitteln, die betagte Menschen zuhause statt im Heim betreuen. Immer mehr Frauen aus Polen oder Ungarn, oft überqualifiziert, pendeln monatsweise zwischen ihren eigenen Familien und Schweizer Haushalten hin und her. Mich hat interessiert, was passiert, wenn eine völlig fremde Person so tief in eine Familienstruktur hineinsieht, und sich dadurch eine unvermeidbare Intimität aufbaut.

Wie sind Sie und Co-Autorin Cooky Ziesche an das Drehbuch herangegangen?

Es war uns wichtig, dass wir das Thema zwar ernsthaft recherchieren und behandeln, dass aber auch komische oder absurde Momente Platz haben. Also nicht ein klassisches Sozialdrama, sondern eine «Comédie très humaine». Und der Erzählton sollte eher trocken und unaufgeregt sein, um das Moralische zu vermeiden. In der Recherche bin ich Bozena Domanska begegnet, einer ehemaligen Pflegerin, die seit zwanzig Jahren zwischen Polen und dem Westen pendelt. Bozena hat die Drehbuch- und Dreharbeiten als Fachberaterin eng begleitet.

Weshalb erzählen Sie die Geschichte auch aus der Perspektive der Familie Wegmeister-Gloor?

«Wanda, mein Wunder» ist ein Ensemblefilm, es geht um Eltern und Kinder und was man sich in der Familie alles antun kann. Nicht nur Wanda will mit Respekt und Würde behandelt werden, auch jedes Familienmitglied sehnt sich danach. Wanda ist die zentrale Figur, sie löst als Katalysator die Entwicklungen und Veränderungen der anderen Charaktere aus, und diese sind genauso interessant: Eine vermögende Familie holt sich eine billige Pflegekraft für das Familienoberhaupt, doch jede*r in der Familie beansprucht ihre Hilfe auch zum eigenen Nutzen. Diese Geschichte mit allen Konsequenzen zu erzählen, ermöglicht verschiedene Perspektiven und überraschende Wendungen. Denn am Ende hat Wanda der Familie ja tatsächlich geholfen, vielleicht weitergehend, als sie sich das vorgestellt hatte. Und auch ihr Verhältnis zur eigenen Familie in Polen hat von den Ereignissen profitiert.

Auffällig ist, dass Sie es vermeiden, Wanda als Opfer darzustellen.

Das ist ein wichtiger Punkt: Natürlich wird Wanda ausgenutzt. Aber sie macht auch mit und geht so weit, dass sie heimlich mit ihrem Patienten gegen Geld schläft. Dafür darf sie sich selber nicht als Opfer sehen. Das war auch ihre persönliche Haltung zu ihrer Figur: Wanda nutzt die Familie ebenso aus. Zudem versteht sie sich auch gut mit Josef. Es ist einfach ein Geschäft, das ihr einen Mehrwert bringt. Der selbstbestimmte Handel «Sex gegen Geld» gibt Wanda paradoxerweise Macht. Sie als Opfer darzustellen wäre zu einfach und hätte es verunmöglicht, auch ihre widersprüchlichen, starken Seiten zu zeigen. Wanda dreht den Spiess der Thematik des Ausnutzens/Dienens, des Oben/Unten um.

Sie haben die Geschichte chronologisch und fast ganz an einem Schauplatz gedreht. Was hiess das für die Dreharbeiten?

Wir waren oft alle zusammen auf dem Set, weil es viele Ensembleszenen gibt. Das war manchmal wie in einem Bienenstock. Wir nahmen uns viel Zeit zum Proben. Mir war es wichtig, dass die Familie glaubwürdig wirkt. Man muss spüren, dass sich diese Leute schon ihr Leben lang kennen. Da hat es sehr geholfen, dass wir viel Zeit zusammen in der Villa verbracht haben. Die Schauspieler*innen hatten sich das Haus zu eigen gemacht und bekamen irgendwann das Gefühl, tatsächlich darin zu wohnen.

Regie: Bettina Oberli, Produktion: 2020, Länge: 110 min, Verleih: Filmcoopi