Weiterleben

«Die Freiheit der Gedanken und der Rede ist immer und überall auf der Welt hart erkämpft worden, an vielen Orten wird noch heute darum gerungen.»

Phuntsog_Genf.jpg

Das sagt Hans Haldimann, der Autor des Dokumentarfilms «Weiterleben», bisher bekannt wegen seines Berglerfilms «bergauf bergab». Er muss es ja wissen; denn er ist beim Schweizer Fernsehen seit langer Zeit zuständig für die Kurzsendung «mitenand», mit der sonntagabends humanitäre Werke und Projekte vorgestellt werden. Nun ist ein langer Film über vier Menschen entstanden, die sich in ihrem jeweiligen Heimatland für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben, dafür schwer bezahlen mussten und heute in der Schweiz leben: eine Tibeterin, eine Kongolesin, ein Chilene und ein Kurde aus der Türkei. Sie haben gegen die Unterdrückung ihrer Völker demonstriert, Wandzeitungen geschrieben, sich bei einer fortschrittlichen Partei engagiert. Sie haben Dinge gemacht, die heute in Mitteleuropa zum politischen Alltag gehören. Aber weil die Regierungen ihrer Länder keine abweichenden Meinungen duldeten, wurden sie gefoltert, einzelne jahrelang eingesperrt.

Überleben – Leben – Weiterleben

«Weiterleben» kommt ohne Horrorbilder aus; der Film gewinnt seine Kraft aus den Erzählungen der Protagonisten und geht der Frage nach, wie diese es schaffen, nach dem Schlimmen, das sie erlebt haben, weiterzuleben. Die Antwort darauf ist einstimmig: Auch nach diesem Horror hat niemand die Hoffnung auf eine bessere Welt aufgegeben.

Der Film arbeitet weniger die Einzelbiografien heraus, als vielmehr das Gemeinsame des Weiterlebens der Vier. Es lohnt sich deshalb, etwas über den Titel zu sinnieren: Was heisst eigentlich Weiterleben? Überleben beinhaltet den Akt, wenn ein Mensch dem Tod entronnen ist. Dann erst wird Leben als Auf- und Durchatmen erlebt. Wenn dieser Mensch dann noch im Besitz genügender Kräfte ist, beginnt ein Weiterleben, auf Neues, Zukünftiges hin. Dieses in-die-Zukunft-hinein-Leben ist mit dem Topos des «Homo viator» verwandt, der in verschiedenen Formen des «Gehenden» bekannt ist, philosophisch, literarisch bei Marcel Gabriel, als plastische Kunstwerke bei August Rodin und Alberto Giacometti. In diesem Sinne sind im Film «Weiterleben» wir alle gemeint: dort die vier Opfer, hier wir Zuschauerinnen und Zuschauer, denen es im Allgemeinen viel besser geht.

Die tibetanische Nonne Phuntsog Nyidron

Sie wurde 1970 in einer Bauernfamilie in Tibet geboren. Eine Schule durfte sie nicht besuchen, da die Chinesen ihre Familie als Regierungsgegner ansahen. Mit siebzehn trat sie in ein Kloster ein. Als sie 1989 zum Einkaufen mit andern Nonnen in der Hauptstadt Lhasa war, erfuhr sie, dass der Dalai Lama den Friedensnobelpreis erhalten hatte. «Einerseits freuten wir uns sehr darüber, anderseits waren wir traurig, weil wir nichts davon erfahren hatten und den Preis nicht feiern konnten.» Am Tag darauf veranstalteten sie eine kleine Manifestation, liessen den Preisträger hochleben und forderten ein freies Tibet. Sofort wurden sie verhaftet, zu neun Jahren Gefängnis verurteilt und gefoltert. Trotzdem liess Phuntsog Nyidron sich nicht unterkriegen. Sie und dreizehn weitere Nonnen schmuggelten ein Tonbandgerät ins berüchtigte Drapchi-Gefängnis, nahmen heimlich Freiheitslieder auf und schafften es, die Kassette ins Freie zu schmuggeln. Sie wurden als die «singenden Nonnen vom Drapchi-Gefängnis» bekannt. Der Preis dafür bestand darin, dass ihre Gefängnisstrafe auf siebzehn Jahre erhöht wurde. 2004 wurde sie vorzeitig entlassen, doch frei war sie immer noch nicht. In einem der zwei Zimmer des Hauses ihrer Familie quartierten sich Polizisten ein. 2006 kam sie über die USA in die Schweiz, wo sie heute im Zürcher Oberland lebt und arbeitet, wenn ihre Gesundheit es zulässt.

Ali Biçer, ein Kurde aus Anatolien

Ali_und_Ada_2.jpg

Als Sohn eines wohlhabenden Mannes wurde Ali Biçer 1960 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien geboren. Am ersten Schultag erfuhr er, was es bedeutete, Kurde zu sein: «Du sitzt da, der Lehrer erklärt etwas, und du verstehst kein Wort. Er spricht türkisch, und du hast in deinem Leben noch nie Türkisch gehört.» Und jeden Morgen musste er im Chor schreien: «Ich bin Türke, ich bin der Beste», obwohl er kein Türke ist. Schon mit fünfzehn, als er in Ankara lebte, engagierte er sich friedlich in einer Gruppe für die Freiheit der Kurden. «Wir waren gleich dreifach schuldig. Wir waren Linke, Kurden und Alewiten.» Als er einundzwanzig war, wurde er zuerst zum Tod, dann zu Lebenslänglich verurteilt, nach fünfzehn Jahren jedoch freigelassen. Weil das Leben als Kurde in der Türkei weiter schwierig blieb, flüchtete er in die Schweiz, wo er vor Kurzem eingebürgert wurde. Über die Folter, die er ertragen musste, kann er heute emotionslos reden: «Das Ziel der Folter ist, deine Persönlichkeit kaputtzumachen. Wenn sie dich nicht gleich töten, möchten sie dir deine Zukunft nehmen, damit du nachher nichts mehr machen kannst. Aber wenn man es schafft, weiterzuleben, heisst das, die Folter hat verloren, nicht ich.»

Rose Catherine Karrer-Nzayamo aus Kinshasa

Rose_malen_3.jpg

Sie stammt aus der Demokratischen Republik Kongo, hat jung geheiratet und zwei Söhne und eine Tochter geboren. Im Kinshasa der 80er Jahre führte sie ein sorgloses Leben. Ihr Mann arbeitete als hoher Beamter in der Regierung, politisierte jedoch in der Opposition gegen Mobutu und verfasste Zeitungsartikel gegen das Regime, worauf die Familie ins Exil musste. Ein vermeintliches politisches Tauwetter bewog die Familie zur Rückkehr, was jedoch eine Falle war. Roses Mann wurde umgebracht, sie selbst verhaftet und tagelang zusammengeschlagen. Ihre Kinder wurden bei den Grosseltern in Sicherheit gebracht. Sie selber schaffte es später, nach Angola zu flüchten. 1994 gelang es ihr, über die Sowjetunion und die Tschechoslowakei in die Schweiz zu reisen, wo sie Verwandte empfingen. Heute lebt sie zusammen mit ihrem zweiten Ehemann bei Zürich, singt in einem Chor und malt. Trotz allem, was ihr widerfahren ist, sagt sie: «Ich bin eine starke Frau geworden.»

Jorge Molina, ein chilenischer Oppositioneller

Jorge_Valparaiso.jpg

1949 geboren, ist Jorge Molina von Beruf Offsetdrucker und besass eine kleine Druckerei in der Hafenstadt Valparaiso, wo er mit seiner Frau und zwei Söhnen lebte. «Meine Generation hatte den Traum einer besseren Welt.» So kam er zu den Jungsozialisten. Als Salvador Allende zum Präsidenten gewählt wurde, ging er mit Kollegen in ärmere Quartiere, um seine Vision von einer besseren Welt praktisch umzusetzen. Die Mitgliedschaft in Allendes Partei reichte, dass er drei Tage nach dem Militärputsch von Pinochet 1973 festgenommen und gefoltert wurde. Nach einem Monat Haft kam er ein erstes Mal frei. Doch er konnte die Ungerechtigkeit nicht erdulden. Er begann, Flugblätter zu verfassen, zu verteilte, später von einem Hochhaus in die Stadt hinunterzuwerfen, obwohl er wusste, dass er erschossen würde, wenn er geschnappt worden wäre. Neun Jahre lang blieb er, ohne dass man ihn beim Verteilen erwischt hatte, wegen seiner Mitgliedschaft in der Partei in Haft und wurde gefoltert. Schliesslich tauchte er unter und gelangte dank der katholischen Kirche in die Schweiz. Heute ist er Schweizer Bürger und lebt in der Nähe der Stadt Zürich.

www.xenixfilm.ch