Workers

Ein Filmgedicht in entschleunigter Zeit: Das erste Spielfilm des Mexikaners José Luis Valle lädt ein zur Langsamkeit und darin zum Erleben wunderbarer kleiner menschlicher Dramen. Ein Leckerbissen für Film-Gourments.

Als Rafael pensioniert werden sollte, erfährt er, dass er weiter arbeiten muss, weil Unterlagen über ihn fehlen. Als eine wohlhabende Dame das Zeitliche segnet, wird ihrer Hausangestellten Lidia eröffnet, dass sie sich weiter um ihre verwöhnte Hündin Princesa, der fortan die Villa gehört, kümmern soll. Zwei Menschen in Tijuana an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, mit Geduld und Empathie beschrieben.

Herausfordernd und sensationell zugleich ist «Workers», der erste Spielfilm des Mexikaners José Luis Valle, durch seine Form. Er lehrt uns eine neue Art, Bilder zu lesen und zu geniessen. Ein Filetsteak für Bilder-Gourmets, wie man es nicht alle Tage, nicht einmal alle Jahre vorgesetzt bekommt, ist hier zu geniessen. Der Film lebt von Bildern und Tönen, Blicken und Seitenblicken, mit denen sich allmählich die Story mit menschlichen Dramen entwickelt, alltäglich und doch sensationell, ernsthaft und doch humorvoll.

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Wie es zum Film kam

«Eines Tages sah ich eine Angestellte das Haus verlassen, in dem sie jahrelang gearbeitet hatte. Ein letztes Mal betrachtete sie still das kleine Zimmer, das ihres gewesen war. Es gab nichts Interessantes darin zu sehen, doch sie schaute es so intensiv an, als gäbe es viel zu entdecken. Ihre Augen nahmen jeden Spalt, jeden Wasserfleck und jeden Makel in der Maserung der Wand wahr, alles bedeute ihr etwas.» Dies war der Keim von «Workers», dieses Films, «bei dem die Annäherung an die Arbeitswelt nicht in Form einer Botschaft oder Anklage erfolgt, sondern als Achse dient, um die sich universelle Gefühle und Empfindungen drehen. Wie sieht ein Mann die Welt, der über dreissig Jahr lang in einer Fabrik geputzt hat? Was für eine Sicht der Welt hat eine Hausangestellte, die über Jahrzehnte einem Haus gedient hat und der aus dieser Zeit schliesslich eine einzige tragische Erinnerung bleibt?»

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Rafael über Arbeit, Leben und Mitmenschen sinnierend

Was gibt dem Film seinen besonderen Wert?

Als ich den Film zum zweiten Mal gesehen hatte und aus dem Kino auf die Strasse getreten war, erlebte ich die Menschen um mich herum ganz anders als normalerweise: wie von aussen, von einem andern Planeten aus. Es gilt also zu fragen: Was ist das Besondere dieses Films? Vergleichbares kenne ich einzig von der formal ebenso radikalen belgischen Regisseurin Chantal Akerman (*1950), beispielsweise in «Toute une nuit» (1982), in dem sie, dokumentarisch oder fiktional, Menschen auf der nächtlichen Strasse filmt und mit uns deren Geschichten zu finden oder erfinden versucht.

Fürs Erste verlangt der Film von uns eine innere Ruhe und eine äussere Langsamkeit. Aussergewöhnlich die fünfminütige Anfangs- und die fünfminütige Schlusseinstellung, einmal aus Rafaels und einmal aus Lidias Perspektive. Zwei Plansequenzen, die Stille verlangen, um uns die Augen zu öffnen und mit den Bildern Geschichten zu finden oder zu erfinden. Zehn Minuten, in denen wir die Zeit fast körperlich wahrnehmen. Doch was ist die Zeit? Das, was nicht wie ein Objekt vor uns ist, sondern etwas, in dem wir drin sind, das uns umfasst. Sich damit auseinanderzusetzen, lädt der Film ein. Im Mainstream-Kino sind solche Einstellungen verboten, werden Tempo und Action gefragt, gibt es auch keine Grundsatzfragen nach der Zeit. «Wer diesen Einstieg durchsteht, bleibt auch die weiteren zwei Stunden am Film, wer das nicht schafft, läuft bereits in diesen ersten Minuten aus dem Kino», meint José Luis Valle, der 1978 als Sohn von Theaterleuten geboren wurde, lachend.

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Lidia am Grabe des Edelhundes Princesa

Gegen den «rasenden Stillstand»

Die Geschichte der Moderne erscheint vor allem als eine Geschichte der Beschleunigung. Die Entwicklung immer schnellerer Transportmittel, kürzerer Kommunikationswege und optimierter Produktionsverfahren hat das Lebenstempo seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich erhöht – bis hin zum Kollaps, zum «rasenden Stillstand». Dagegen kämpft der französische Philosoph Paul Virilio (*1932) als Vertreter der kritischen Post-Moderne und plädiert für eine Entschleunigung, wofür er im mexikanischen Filmemacher José Luis Valle mit seinem «Workers» einen Gefährten im Geiste gefunden zu haben scheint.

Die ausserordentlichen Plansequenzen am Anfang und am Schluss bestätigen meine Formel zur Medienrezeption: Je aktiver der Film (im Einsatz filmischer Mittel), desto passiver sind die Zuschauer, je passiver der Film, desto aktiver werden die Zuschauer. In «Workers» arbeiten wir Zuschauer mehr als üblich. Wenn wir in dieser Haltung den ganzen Film sehen, ist er höchst interessant, was etymologisch heisst, dass wir dazwischen, dabei sind und teilnehmen. «Der Text ist das, was der Leser aus ihm macht», meint der syrisch-libanesische Dichter Ali Ahmad Said. Und das trifft wohl auch für den Film, im Besonderen für ein Meisterwerk wie «Workers» zu.

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Absurd wie vieles im Leben: eine Hündin als Villenbesitzerin

Arbeit als Lebenserfahrung

Sequenz um Sequenz, Einstellung um Einstellung nähern wir uns während zweier Stunden den beiden Protagonisten und ihren Geschichten: Rafael in einer Glühbirnenfabrik, Lidia im Haus einer steinreichen Dame. Ihr Alltag ist ihre Arbeit, ihre Arbeit ihr Leben. Das ist bloss eine der verschiedenen Ebenen dieses so unaufgeregt vielschichtigen Films.

«Ich kann keine Langzeitpläne mehr machen», hatte mein Vater nüchtern mit der müden Resignation eines Mannes verkündet, dessen Zeit abgelaufen ist.» Dies ein weiteres Ursprungserlebnis für den Film. Die «Reflexion über die Arbeit als Lebenserfahrung, die mehr beinhaltet als den Verdienst», leistet der Film in feinen Anspielungen, gelegentlich auch leisem Humor. Er schildert Menschen, die über Jahrzehnte durch die immer gleiche Tätigkeit konditioniert werden und sich über ihre Arbeit definieren.

Beschrieben hat Valle seine arbeitenden Menschen diesseits und jenseits einer Grenze, jener zwischen Mexiko und Amerika. Er selbst flüchtete einst mit seinen Eltern von El Salvador nach Nicaragua, nach Costa Rica, nach Kuba, nach Mexiko und schliesslich in die USA. So spricht die Rahmenhandlung neben weiteren andern Themen das Leben in der Emigration an und thematisiert es anschaulich.