You Will Die at 20
Fremde, schöne, fragwürdige Rituale
«Damit der Mensch leben kann, muss der Tod gleichzeitig präsent und abwesend sein. Das Gefühl von Sterblichkeit treibt voran und erfüllt mit Sinn, begrenzte Zeit will schliesslich genutzt werden. Doch zu nah darf das Ende nicht erscheinen, weil es vom Gefühl für Wirkung und Konsequenz des Handelns befreit.» Mit diesem Text führt Lucas Barwenczik an diesen Film heran. Das Kino hat eine lange Tradition von Filmen zu diesem Thema, hier einer aus dem Sudan, der erste des Regisseurs, der achte aus dem Lande insgesamt, der erste in der Schweiz zugängliche.
Schon mit der ersten Einstellung, einer Wüstenlandschaft mit einem toten Kamel, tönt der Film das Thema an im Niemandsland, von wo eine Menschengruppe ins Dorf einzieht. Dort ist ein Knabe zur Welt gekommen, und seine Mutter holt den Segen des Imams. Als der Neugeborene gesegnet werden soll, bricht ein tanzender, zählender Derwisch mit dem Wort «Zwanzig» auf den Lippen tot zusammen. Das Volk hört das und deutet es: Muzamil wird mit Zwanzig sterben. Fortan liegt ein düsterer Schatten über der Familie. Der Vater Alnoor verlässt das Land, um Arbeit zu finden, die Mutter Sakina lebt allein mit ihrem Sohn. Dieser wächst in einer Welt frommer Schicksalsergebenheit auf. Die Mutter lässt ihn aus Angst nicht schwimmen und nicht mit den andern Kindern spielen. Das verunmöglicht Muzamil, zu erfahren, was ein Leben mit Zukunft und damit auch mit Gegenwart bedeutet. Auch muss er das Gehänsel der Kinder, die Verachtung der Jugendlichen ertragen; das Mädchen Naima, das ihn gern hätte, kommt nicht an ihn heran, während die Mutter Striche an die Wand kritzelt, die ihr andeuten, wie viele Jahre ihrem Sohn noch bleiben. – Mit Respekt vor der Tradition, aber dennoch mit Transparenz auf die Funktion solcher Glaubensrituale, zeichnet Regisseur Amjad Abu Alala in seinem Spielfilm, wohin religiöser und gesellschaftlicher Wahn Menschen bringen kann.
Muzamil versteckt sich vor den Spielkameraden
Wenn Glaubenswahn Leben verhindert
Im langsam und ruhig sich entwickelnden Flow des Films vergessen wir diese Prophezeiung bald und interessieren uns für das, was vor unseren Augen abläuft: Szenen eines verhinderten Lebens, ohne Hoffnung auf ein nicht vorherbestimmtes Leben. Der Regisseur verfolgt seine Figur durch Kindheit und Jugend bis zum zwanzigsten Lebensjahr. Viele Szenen sind leicht verständlich, andere lassen Deutungen offen. In jeder dieser Perioden lernt Muzamil neue Menschen kennen, mit denen für ihn jedoch keine Beziehung mit Zukunft möglich ist. Eine besondere Rolle in seinem Leben spielen Sulaiman, ein leicht mürrischer Alter, der die Frauen kennt und das Kino, sowie seine Mitbewohnerin, die am Schluss Muzamil zu einem entscheidenden Akt verhilft. Beide eröffnen dem jungen Mann die Sicht auf eine Welt jenseits des Dorfes.
«You Will Die at 20» fasziniert durch seine Bildkompositionen – Kamera Sébastien Goepfert – die warmen Farben, die Aufnahmen, in denen das wunderbare Helldunkel in Muzamils Haus mit den traumhaften Bildern der kegelförmigen Heiligtümer kontrastiert. Der in Venedig prämierte Film ist geprägt von sorgfältigen, wohlwollenden Beobachtungen des Lebens in einem Dorf zwischen den beiden Nilen – und ist allgemeingültig. Wohin kann ein blinder Glaube die Menschen führen? Durch Isolation in den verfrühten sozialen Tod? Durch eine liebende Aufklärung oder eine aufgeklärte Liebe zur Flucht?
Muzamil mit dem aus dem Exil zurückgekehrten Vater
Ein Film aus dem fernen Sudan bei uns?
Weshalb sollen wir uns Themen des blinden Glaubens und determinierender Rituale in einem Film aus dem Sudan anschauen, wenn diese Themen auch bei uns aus jüdischer, christlicher, islamischer Sicht und westlicher Kultur filmisch aufgearbeitet werden? Erstens, weil die Erde nicht nur aus der nördlichen Hemisphäre besteht, eine afrikanische Stimme also ebenso Gewicht hat wie eine aus der ersten Welt, um solche Themen zur Darstellung zu bringen. Und weil ein Film, beispielsweise aus dem Sudan, mit andern Bildern und Tönen die gleiche Wirklichkeit ausleuchtet und so unsere Wahrnehmung bereichert. Und weil heute schliesslich in aufgeklärten Kreisen doch weitgehend Konsens herrscht, dass es die eine Wahrheit nicht gibt.
Muzamils Mutter Sakina zählt die verbleibenden Tage
Aus einem Interview mit Amjad Abu Alala
Wie sind Sie Filmemacher geworden? Ich bin Sudanese, habe die sudanesische Staatsbürgerschaft, bin aber in Dubai geboren und aufgewachsen. Als Teenager habe ich fünf Jahre im Sudan verbracht; mein Film hat viel mit dieser Zeit zu tun. Dort habe ich mich ins Kino verliebt und zum ersten Mal einen Film des verstorbenen ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine gesehen. Ich begann, nach seinen Filmen und nach Filmen anderer Regisseure zu suchen. Später, an der Universität in Dubai, stand den Studenten eine Kamera zur Verfügung, die ich für meine ersten Kurzfilme benutzte.
Wie sind Sie auf die Geschichte von «You Will Die at 20» gestossen? Es gibt eine Kurzgeschichte des bekannten sudanesischen Schriftstellers und Aktivisten Hammour Ziada. Dieser lebte in Ägypten, weil er für zehn Jahre aus dem Sudan verbannt wurde. Ich habe seine Geschichte 2016 gelesen und wusste sofort, dass mein erster Spielfilm auf ihr aufbauen muss. Durch sie fühlte ich mich mit meiner eigenen Kindheit verbunden.
Ist der Film eine Fabel darüber, was Menschen hindert, ihr Leben zu leben? Er zeigt, wie sehr ein starker Glaube das Leben der Menschen beeinflussen und wie er politisch genutzt werden kann. Die sudanesische Regierung von Omar el-Beshir benutzte den Islam, um das Volk zum Schweigen zu bringen. Wenn jemand den Satz «Gott sagt» ausspricht, werden alle still. Mein Film ist eine Einladung, um frei zu werden. Niemand kann dir sagen: Das ist dein Schicksal, so steht es geschrieben. Es ist an dir, zu entscheiden, wie dein Leben aussehen wird. Das ist es, was der alte Sulaiman dem jungen Muzamil beizubringen versucht.
Sulaiman sagt, man muss Sünde erfahren, um den richtigen Weg zu wählen. Warum sich entschuldigen, bevor man den Fehler überhaupt begangen hat? Mach den Fehler und entschuldige dich dann. Sulaiman möchte, dass Muzamil sein Leben lebt: ein Leben mit Gutem und Bösem, in dem einem niemand den Weg zeigt. Man muss das Leben erfahren, um zu wissen, was es ist, wer ich bin.
Spielt die Geschichte im heutigen Sudan? Wir drehten in dem Dorf meines Vaters, in dem wir früher Ferien machten. Und abgesehen davon, dass wir hier und da am Dekor etwas gemalt haben, haben wir nichts gebaut, es ist das Dorf, wie es noch heute ist. Die Kurzgeschichte spielt dort, wo Hammour Ziada aufgewachsen ist, im Norden des Landes, nahe der Grenze zu Ägypten. Ich sagte ihm, ich wolle sie bei mir zu Hause, im Zentralsudan ansiedeln. Das funktionierte sogar noch besser, denn der Sufismus, eine asketisch-mystische Strömung im Islam, die dem Salafismus entgegengesetzt ist, ist in dieser Region sehr stark verankert: Die Zeremonie, bei der der Derwisch zusammenbricht, ist Sufismus.
Letzten Frühling wurde der Sudan Omar el-Beshir, der das Land seit dem Putsch von 1989 regierte, endlich los. Ist der Film auch eine Botschaft an das sudanesische Volk? Ein Aufruf zur Freiheit? Muzamils Lauf am Schluss ist eine Metapher dafür, was das sudanesische Volk gerade jetzt tut! Auch wenn wir uns immer noch mit der Armee auseinandersetzen müssen. Ich habe den Film vor der Revolution geschrieben, aber die Freiheit war immer mein Thema. Wir begannen Mitte Dezember 2018 mit den Dreharbeiten, am selben Tag, an dem der erste Funke im äussersten Norden des Sudan, in Atbara, die Revolution entfachte. Alle am Set waren überwältigt. Selbst die ausländischen Crew-Mitglieder, insbesondere die Franzosen. Ein Geruch von Freiheit war überall. In einem Revolutionslied heisst es: «Wir alle sind von der Revolution inspiriert und werden bekommen, was wir verdienen.»