Zürcher Tagebuch

Bewegt und bewegend: Das «Zürcher Tagebuch» von Stefan Haupt, persönlich und zugleich gesellschaftlich verankert, ist vielleicht das schönste Tagebuch einer Stadt, einer Zeit und einer Person, das Orientierung sucht, sich sorgt und zweifelt.
Zürcher Tagebuch

Stefan Haupt, *1961

Mit dem Mut zur Unausgewogenheit und Unvollständigkeit, in irritierender Gleichzeitigkeit von Innen- und Aussenwelten, über Alltag und Ausnahmezustand, vom Leben hier und ganz woanders, spinnt der 61-jährige Filmemacher Stefan Haupt ein vielschichtiges Netz, fängt poetisch und experimentierfreudig Gefühle, Gedanken, Stimmungen und Tendenzen ein, in einem Spiegelbild unserer irritierenden, emotionsgeladenen, bedrohlichen, spannenden Zeit.

Im «Zürcher Tagebuch» erlebe ich einen Filmemacher, der sucht, sich sorgt, zweifelt, aufbegehrt und vor allem fragt. Denn die im Film gegebenen Antworten sind nicht seine Antworten, sondern solche von anderen, zu denen er und wir eigene zu suchen haben. Die Aussagen der 21 Protagonisten, die aussagekräftigen Bilder von Lutz Konermann, die stimmige Musik von Tomas Korber und Alexis Haupt, der klärende Schnitt von Christof Schertenleib und der moderierende Sprecher Hanspeter Müller-Drossaart laden ein auf einen langen, ja lebenslangen Weg des Fragens.

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Stefans Haupts jüngste Tochter (l)

Antworten, die zu immer neuen Fragen führen

Das «Zürcher Tagebuch» ist ein filmischer Essay, der reflektiert und verortet, was im Moment an schwer fassbaren individuellen und politischen Entwicklungen abläuft. Haupt geht dabei assoziierend und mäandrierend vor und bezieht persönliche Texte, Bilder und Beobachtungen der letzten Jahre mit ein. All dies vor dem Hintergrund seiner eigenen Familie und seiner Heimatstadt, wo ein Wandel des Zeitgeistes zu beobachten ist, 169 Nationalitäten zuhause sind und angesichts brennender Themen wie Flüchtlingsdramen, Finanzkrisen, Klimaerwärmung gelegentlich ein mulmiges Gefühl aufsteigt in einer Zeit der totalen Überforderung durch mediale Überflutung und Realtime-Informationen. Mittendrin ein Aufbruch, ein Erwachen, das viele Kreise erfasst. Ansätze von Visionen, neuen Formen des Zusammenlebens. Momente des plötzlichen Vertrauens in unsere Institutionen, Strukturen und in uns selbst: all dies in einer Stadt, die beste Voraussetzungen hat, sich vorwärts zu bewegen und neue Wege zu erkunden.

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Was liegt in der Luft? Wohin geht die Reise? – Anmerkungen des Regisseurs

Eigentlich wollte ich schon vor Jahren einen Film drehen über die Finanzkrise 2008. Eine eigenwillige Mischung aus Wut und Ohnmacht war der Antrieb dazu: Ich war erschüttert und erschrocken, dass ich nichts verstand von alledem, was da vor sich ging. Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren: Ich begann zu lesen und zu recherchieren, filmte erste Gespräche in Stanford und Bonn, besuchte Vorträge zur Schuldenthematik, befragte Verwandte und Bekannte in Griechenland, die plötzlich nur noch 60 Euro pro Tag auf der Bank abheben durften, traf einen Milliardär in Paris, las über die steigenden Bodenpreise in Zürich, darüber, wie viele Prozente des Zürcher Bodens sich bereits in den Händen von börsenkotierten internationalen Immobilienfirmen befinden.

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Doch irgendwann kapitulierte ich und musste mir eingestehen: Ich bin kein investigativer Wirtschaftsjournalist. Mir fehlte das unbedingte Interesse, die allerletzte Konsequenz und Entschlossenheit – oder vielleicht auch einfach die Kraft, um hier den Durchblick gewinnen zu wollen.

Gleichzeitig wandelten sich meine Fragen. Denn bei vielen Freundinnen, Freunden und Bekannten nahm ich ein ähnliches, allgemeines Unwohlsein wahr: dieses ambivalente Grenzland zwischen Wut und Widerstand einerseits – Müdigkeit und Ohnmacht andererseits. Dieses Leben zwischen einem permanenten Überfordert-Sein durch die mediale News-Überflutung in Echtzeit – und dem ganz persönlichen Bestreben, mit dem gelebten Alltag und all seinen Anforderungen zurechtzukommen. Dieses Spannungsfeld von all dem, was wir heutzutage wissen, wissen können, wissen müssten und dem ganz alltäglichen, familiären, beruflichen Leben, das häufig ganz anderen Bedingtheiten, Gegebenheiten und Gewohnheiten folgt, entsprechen muss.

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Stefan Haupts Eltern

Und so wandelte sich die Filmidee in den Versuch eines filmischen Tagebuchs, um diese übergrossen und gleichzeitig alltäglichen Fragen einzufangen: Wo lebe ich eigentlich? Wie lässt sich diese Zeit, in der ich und wir hier leben, wie lässt sich das alles einfangen? Was verändert sich eben? Und wie erleben das meine Kinder, meine Eltern, meine Freunde und Bekannten?

Im Bewusstsein, wie sehr ich und wir hier in einer «Bubble» leben, wollte ich mich eben dieser Blase genauer zuwenden. Bewusst habe ich darauf verzichtet, neben meinen eigenen Gedanken und Texten und den Gesprächen mit meinen Kindern und Eltern Stimmen eine möglichst ausgewogene, gesellschaftlich repräsentative Auswahl von Protagonistinnen und Protagonisten zusammenzustellen. Im Gegenteil: Bei der Auswahl der Gesprächspartner bin ich in politischer und demografischer Hinsicht nahe an meinem Umfeld geblieben, mit dem Ziel, hier tiefer zu bohren und mich und uns stärker befragen und hinterfragen zu können.

Ich bin in Zürich aufgewachsen, habe den grössten Teil meines Lebens hier verbracht und fühle mich mit dieser Stadt und ihren Menschen sehr verbunden. Hier wohne ich, wohnt meine Familie, hier nehme ich teil am Leben, bin Teil einer Gemeinschaft, einer Stadt. Erwachsen geworden bin ich in den 80er-Jahren, mit klaren, fassbaren Feindbildern und Vorbildern – die Verheissungen des Mauerfalls 1989 erlebend, dann die hochgesteckten, motivierenden Millenniumsziele, einen Wandel der Gesellschaft vor Augen, hin zum Guten, zur politischen Entspannung.

Dann, parallel dazu, über Jahre hinweg das Wachsen einer rechtspopulistischen Partei im eigenen Land, das schleichende Akzeptieren und Übernehmen ihrer Themen und ihrer Rhetorik, die sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, Fragen nach der Käuflichkeit der Demokratie, der konstanten Schwächung ihrer Institutionen genauso wie der unabhängigen Medien.

Und eine ehemals politisch kämpferische Linke, die, zuweilen wie in Watte gepackt, die Vorgänge zu verstehen versucht, ihnen mit rationalen Argumenten beikommen möchte, doch dabei häufig mut- und kraftlos wirkt. Eine tief sitzende Lustlosigkeit zur Auseinandersetzung, der Rückzug ins Private, ein Gefühl von Sinnlosigkeit des Widerstands, von Ohnmacht und Lethargie.

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Und doch scheint gerade seit den letzten Jahren etwas in Bewegung zu kommen: In unserem Land wurden in den vergangenen Jahren auch ganz andere Zeichen gesetzt, beispielsweise in Abstimmungen: wie die Ablehnung der Unternehmenssteuerreform III, die Annahme der erleichterten Einbürgerung für die dritte Generation, die Klimabewegung und die Schülerproteste, der Frauenstreik und den Wahlen im letzten Herbst, die aufrütteln. Doch wie fassbar, wie nachhaltig sind diese Veränderungen? Wie sehr bilden wir sie uns bloss ein?

Seit Fertigstellung des Filmschnitts Ende März sind ja bereits wieder neue, drängende Themen hinzugekommen, selbstverständlich dominiert von diesem uns alle betreffenden Virus, das unseren Alltag in einer ungeahnten Weise umgekrempelt hat, verändert und weiter verändern wird.

Und doch: Mein Alltag spielt sich in erster Linie ganz unspektakulär und konkret in den eigenen vier Wänden ab. Es sind dies Jahre voller Arbeit mit den heranwachsenden Kindern, mit Besuchen im Altersheim, mit den grundlegenden Anforderungen wie Geld verdienen, Haushalten, mit Anzeichen des körperlichen Älterwerdens, vor dem Hintergrund eines ewig ratternden Hamsterrades – und mittendrin ab und zu die Fragen: Was ist wirklich wichtig? Wie will ich leben? Wohin bewegt sich unser multioptionales, vielschichtiges Leben? Steuern wir unaufhaltsam auf einen Abgrund zu oder beginnt gerade wieder neues Blut in den Adern zu fliessen?

Das «Zürcher Tagebuch» will ein assoziatives, vielschichtiges Netz spannen, will poetisch und experimentierfreudig Gedanken, Gefühle und widersprüchliche Tendenzen einfangen, Fragen stellen – ein Spiegelbild sein einer irritierenden, bedrohlichen, emotionsgeladenen, aber auch äusserst lebendigen, spannenden Zeit, beschränkt auf diesen Lebensraum, den ich am besten kenne: Zürich, meine Heimatstadt.

Stimmen aus dem «Zürcher Tagebuch»

Gesprächspartnerinnen und Partner im «Zürcher Tagebuch»

Link zu den Besprechungen von 7 der 14 Filme von Stefan Haupt

 

Regie: Stefan Haupt, Produktion: 2020, Länge: 101 min, Verleih: xenixfilm