Zum Beispiel Suberg

In seinem Dokumentarfilm «Zum Beispiel Suberg» stellt Simon Baumann kluge und Anteil nehmende Fragen über das Wohnen, die Wirtschaft, den Strukturwandel und das miteinander leben.

«Suberg. 475 Meter über Meer, 612 Einwohner. Ein Bahnhof, ein Schulhaus, ein Wirtshaus und eine Düngerfabrik. Ein mittleres Dorf im Schweizer Mittelland.» So stellt der Kommentar den Gegenstand der filmischen Untersuchung vor. «In nur drei Jahrzehnten hat sich das verschlafene Bauerndorf zum anonymen Schlafdorf entwickelt. In Suberg gib es heute keine Post, keine Landi und keinen Dorfladen mehr.» So die aktuelle Diagnose von Suberg im Berner Seeland. Zum Beispiel, betont er; denn viele andere Orte in der Schweiz sind mit gemeint.

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Begrüssung über eine Hecke hinweg

Wie wollen wir leben?

Der Filmemacher Simon Baumann (*1979) lebt seit seiner Geburt in Suberg. 32 Jahre lang hat er das Dorf und seine Bewohner erfolgreich ignoriert. Anders als sein Grossvater, der als Bauer eine hochangesehene Persönlichkeit der damaligen Dorfgemeinschaft war, kennt er hier kaum jemanden. Doch viele kennen seine Familie, denn seine Eltern waren das erste Nationalratsehepaar und hat sich im Dorf viele Feinde geschaffen, bis es nach Frankreich ausgewandert ist. Auf der Suche nach Anschluss trifft er nicht nur auf offene Türen und stellt fest, dass es in diesem Dorf wenig Kontakte gibt. Also geht er auf einige Bewohner zu, frägt Exponenten um ihre Meinung, reanimiert den ehemaligen Dorfplatz, indem er beim Stopp der Bahnüberführung Nussgipfel verteilt, und findet schliesslich im Männerchor eine vorläufige Oase des Gemeinschaftssinns.

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Nicht nur meteorologisch liegt hier vieles im Nebel …

Mit feinem Humor und zugleich grossem Ernst zeigt der Film die langsam fortschreitenden Veränderungen im Zusammenleben der Menschen im Dorf. Vereinsamung, Zersiedelung, Isolation und der Druck der Rentabilität sind Gründe dieses Strukturwandels: hier und vielerorts in der globalisierten Welt. «Man sagt, die Welt sei ein Dorf geworden. Nehmen wir an, dieses Dorf heisst zum Beispiel Suberg, dann kann man hier die ganze Welt sehen», meint Baumann. Und das kann man. Suberg dient als Einstieg, schon bald merkt man, dass wir und unsere eigenen Wohnorte mit gemeint sind in dieser Chronik.

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Der Regisseur frägt, bis die Suberger selbst Fragen stellen.

Ein kleiner mit grossen Qualitäten

Das durch Mundreklame ständig wachsende Publikum bestätigt meinen Eindruck, dass dieser kleine Film eigentlich ein grosser ist und bemerkenswerte Qualitäten hat. Er ist unterhaltsam, im ursprünglichen Sinn des Wortes. Das heisst, er spendet der Seele, die nach Sinn sucht, Unterhalt, also Nahrung. Weiter ist er in vielen Details wissend, ohne besserwisserisch aufzutreten. Und er ist kritisch und dennoch liebenswürdig. Simon Baumann als Filmautor und Kathrin Gschwend als Koautorin haben ein Werk geschaffen, das sich (mindestens) dreifach auszeichnet.

Besonders nah geht uns Suberg, weil Suberg dem Filmerpaar nahe geht. Der Ort betrifft sie und ihr Leben. Sie leben hier als Nicht-Integrierte, und das versuchen sie jetzt mit diesem Film zu ändern: Der Autor geht als Akteur zu den Nachbaren, mit denen er dreissig Jahre lang keinen Kontakt hatte. Er frägt drei Männer, die wesentlich beigetragen haben, dass Suberg heute das ist, was es ist: den Besitzer der Düngerfabrik, den früheren Gemeindepräsidenten und den Viehhändler. Eine folgenschwere Rolle spielen darin aber auch seine Eltern, die SP-Nationalrätin Stefanie und der Grüne Nationalrat Ruedi Baumann, die in den Neunzigerjahren mit ihrer links-grünen Politik im SVP-Dorf polarisierten, bis sie resigniert ins Ausland auswanderten. Die Grosseltern, damals angesehene Personen in Suberg, bringen im Film die Vergangenheit in die Gegenwart, unter anderem mit den Super-8-Amateurfilmen, die sein Onkel seit 1970 gedreht hat und die in den Film montiert wurden. Der Film ist ein Werk aus subjektiver Betroffenheit über objektive Tatbestände. «Je subjektiver Kunst ist, desto objektiver ist sie», soll Paul Valéry gesagt haben, was hier wohl zutrifft.

Die verschiedenen Perspektiven auf das neblige und durch 150 tägliche Zugsdurchfahrten lärmige Dorf verhelfen dem Film zu seinem Reichtum, dem zweiten Verdienst. «Zum Beispiel Suberg» handelt nicht wie viele andere Filme ein Thema ab und schneidet die Beobachtungen auf eine Antwort hin, sondern macht gerade in der Montage (Katharina Bhend) erlebbar, dass alles mit allem zusammenhängt. Das Bauen hängt mit dem Wohnen, das Wohnen mit dem Verdienen, das Verdienen mit der Mobilität, die Mobilität mit der Zersiedlung, die Zersiedlung mit der Isolation, die Isolation mit der Kommunikation, die Kommunikation mit dem Wertewandel zusammen. Usw. usf. Die Aussagen der Akteure erhalten zudem durch die Musik (Claudio Bucher und Peder Thomas Person) ihre emotionale Stimmung, die weder im Optimismus noch im Pessimismus endet, sondern in einer echten, anteilnehmenden Mitmenschlichkeit.

Der Weg zur Bearbeitung der Themen besteht aus Fragen. Dies das dritte Verdienst. Fragen stellt der Autor den Dorfbewohnern, Fragen beginnen im Laufe der Gespräche auch diese selbst sich zu stellen, Fragen stellen die Bilder, die Töne, die Landschaften, die Architektur und der Verkehr – und stellen letztlich wir selbst uns während des Films und danach. Die vorläufigen Antworten, die der Film gibt, verlangen stets wieder neue Fragen. Dieser Diskurs erinnert mich an Ingmar Bergman, dessen Antworten am Schluss eines Films sich stets im neuen Film als neue Frage entpuppen. Immer weiter ein Stück auf dem Weg zu mehr Wahrheit. Er erinnert mich aber auch an die Fragen «Was fehlt uns zum Glück?», «Bin ich ein guter Freund?», «Was ist der Tod?» im «Tagebuch 1966-1971» von Max Frisch. Er hatte seine Fragen nie beantwortet, sie blieben offen. Genauso so offen bleiben die Fragen im Film «Zum Beispiel Suberg».

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Der Männerchor mit dem Neuling Simon Baumann: Ist das die Zukunft?

Selten ging ich aus einem Film ähnlich motiviert, weiter zu denken über z. B. Altstätten, Baar, Zürich, meine heutige Wohngemeinde – weil die Welt wirklich ein Dorf ist wie Suberg. Der Film regt an, uns zurück zu besinnen, wie es bei mir, bei uns war, wie es bei mir, bei uns ist, wie es bei mir, bei uns sein soll. In einem Dossier zum Film schreiben die Autoren am Schluss: «Zum Beispiel Utopia: Wie wollen wir leben?». Ja, darum geht es letztlich, in einer Zeit ohne Utopien dennoch Utopien zu suchen und zu bearbeiten.

Verleih und Trailer