Zwischen Wunsch und Verpflichtung. Angehörige begleiten und pflegen

Der helfende Mitmensch: Berührende Einblicke in die wenig bekannte Welt, in der Freiwillige ihre kranken, behinderten und alten Angehörigen begleiten und pflegen.

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Mobiler werden, um von seiner Frau unabhängiger zu sein.

Die neue DVD «Zwischen Wunsch und Verpflichtung. Angehörige begleiten und pflegen» der «Familien- und Frauengesundheit» ist den Abertausenden von Freiwilligen gewidmet, die in der Schweiz täglich Angehörige begleiten und pflegen. Wie gehen diese Menschen mit ihrer Aufgabe um? Wie meistern sie die Herausforderung, ohne dabei ihr eigenes Wohlbefinden und ihre sozialen Kontakte zu vernachlässigen? So etwa dürfte der Auftrag für die Filmproduktion gelautet haben. Entstanden ist kein didaktischer Lehrfilm, der zeigt, wie man es in einer solchen Situation machen muss, sondern ein auf einem klugen Konzept beruhender Dokumentarfilm, der ein halbes Dutzend Familien anteilnehmend vorstellt, in denen Angehörige betreut und bepflegt werden. Er spricht, von Mandolinenklängen begleitet, die Emotionen an und lässt das Publikum eine für viele unbekannte Welt wahrnehmen: für wahr nehmen als Teil unserer Wirklichkeit. Er zeigt Behinderte und Helfende: nah, glaubhaft, berührend. Ausgezeichnet die einfühlsame Kamera von Hannes Meyer, die rhythmisierende Montage von Jeanne Rüfenacht und die Regie von Annemarie Friedli, die mit Menschenkenntnis und hoher Professionalität die beiden Pole des zwischenmenschlichen Prozesses bewusst und erfahrbar macht: die Leidenden und die Helfenden in ihrer gegenseitigen existenziellen Verbundenheit.

Menschen, die Hilfe brauchen …

Ein paar Beispiele aus dem Film: Nach drei gesunden Kindern ist in der Familie Ackermann die 12jährige Eva behindert zur Welt gekommen und hat das Familiengefüge gründlich durcheinandergebracht. Sie verlangt eine Pflege rund um die Uhr. Heute funktioniert dies durch soziales Netz mit der Mutter Franziska, ihrem Mann, der Grossmutter, dem Bruder. Vor drei Jahren ist die dreifache Mutter Madeleine König in Genf an Krebs erkrankt, nach Spitalaufenthalt und Chemotherapie ist die Krankheit erneut ausgebrochen und hat sie in den Rollstuhl gezwungen. Die Mutteraufgaben erfüllte darauf ihr Partner Antoine Erriquez, der dafür seine beruflichen Träume als Fotograf aufgeschoben hatte. Nach einer heiklen Operation wurde Peter Gerber Tetraplegiker und ist heute vollkommen von der Hilfe seiner Frau Beatrice abhängig. Ob dieser Belastung wurde sie selber krebskrank, erholte sich jedoch wieder und kann heute ihren Mann pflegen. Doch dieser hat nur einen Wunsch, möglichst bald wieder mobil zu werden, um seine Frau zu entlasten. Vor zwei Jahren wurde Hansjörg Senn durch einen Hirnschlag in ein anderes Leben katapultiert. Jetzt hat seine Frau Liesel, unterstützt durch die Spitex, von einem Tag auf den andern die Starke zu sein, nachdem er es bisher war. Da sie ein Eigenheim besitzen, bekamen sie finanzielle Probleme, die sie mit vielen Umtrieben lösen konnten. – Dies sind Hinweise auf Geschichten von jenen, die Pflege, Unterstützung und Hilfe benötigen.

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Sich nicht unterkriegen lassen, dann bin ich stets in der Erholung.

… und Menschen, die begleiten und helfen.

Kraft und Freude holt sich Liesel Senn, die ihren fast vollkommen gelähmten Mann betreut, beim Singen im Chor. Und jeden Sonntag kommt eines der fünf Kinder mit der ganzen Familie, kocht und speist mit den Eltern. Ihre schon immer engen Familienbanden wurden durch dieses Ereignis noch intensiver, meint ihr Sohn. «Ich brauche Luft, möchte einmal auf ein Fest gehen, ohne stets zur Zeit wieder nach Hause zu müssen», wünscht sich Beatrice Gerber, deren Partner Tetraplegiker ist. Und Franziska Ackermann meint, dass man kreativ sein müsse. «Im Geschäft erhole ich mich von der Arbeit zu Hause, beim Jazztanz von der Arbeit im Geschäft, so bin ich immer in der Erholung», meint sie lachend. Und Liesel Senn spricht aus, was für alle gilt: «Hilfe annehmen!» Als Christine Egerszegi sich mit ihren zwei Pflegebedürftigen total überfordert fühlte, schrieb sie ihren Kindern eine SMS: «Ich brauche euch!» Und am andern Morgen standen sie vor der Tür, die Verantwortung wurde aufgeteilt, es entstand eine neue Familienbeziehung. «Ich muss lernen, Abschied zu nehmen», meint Heinz Hui, auch wenn die Partnerin Hanna noch neben ihm steht. Gelegentlich gibt es, wie bei Monika Schiess, auch lustige Situationen im Umgang mit dementen Menschen, dann etwa, wenn sie ihrer Mutter gegenüber eines Tages aus der Kinderrolle in eine Mutterrolle befördert wird.

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Wenn man unbemerkt aus der Kinderrolle in die Mutterrolle geschoben wird.

Der Mensch: ein helfendes Wesen

Der Film mit dem Untertitel «Angehörige begleiten und pflegen» verweist darauf, was für die Familien hier und jetzt Begleitung und Pflege bedeutet, und beschreibt dies: konkret, sachlich, anteilnehmend und engagiert. Doch in meinen Augen ist der Film nicht bloss ein Abbild einer konkreten Wirklichkeit und damit auch Vorbild für andere Situationen, sondern darüber hinaus ein allgemeingültiges Sinnbild! Er definiert den Menschen als helfendes Wesen.

Während des ganzen Films war mir der Roman «La peste» von Albert Camus präsent. Der Nobelpreisträger schuf darin in der Figur des Arztes ein epochales Symbol: den Menschen als helfendes Wesen. Dr. Bernard Rieux hilft im nordafrikanischen Oran den Bewohnern während einer Pestepidemie: als hilfloser Helfer. Er tun es wie einst im antiken Mythos Sisyphos. Die Kranken kann er nicht heilen, doch helfen kann er ihnen. Seine Anwesenheit, seine Anteilnahme ist bereits eine Hilfe, eine Heilung. Für den Existenzialisten Camus gibt es keine Transzendenz; für den Christen, der das Gleiche tun wie Rieux, gibt es sie. Für beide steht der Nächste im Mittelpunkt, ist die Herausforderung. Der Mensch wird erst Mensch in der Begegnung. Und Begleiten und Pflegen, wie es dieser Film auf vielfältige Art zeigt, ist doch eine höchst intensive Begegnung.

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Die Enkel bringen dem ehemaligen Dirigenten ein Ständchen.

Eine DVD für die breite Öffentlichkeit

Die DVD mit dem 45-minutigen Dokumentarfilm «Zwischen Wunsch und Verpflichtung. Angehörige begleiten und pflegen», in deutscher, schweizerdeutscher und französischer Version, kostet Fr. 38.00, inkl. Versandspesen, erhältlich bei FFG-Videoproduktion, Wibergliweg 4, 6060 Sarnen, www.ffg-video.ch, info@ffg-video.ch. Das beigelegte 16-seitige Booklet enthält viele weiterführende Informationen und Adressen.