Zwischenwelten
Symbolbilder der Befindlichkeiten
Thomas Karrer nimmt uns mit auf eine Reise ins Appenzellerland, wo seit je ein besonderer Umgang mit Geistheiler/-innen besteht. Naturheilpraktiker ergänzen mit ihren alternativen Heilmethoden die Schulmedizin, ermöglichen aussergewöhnliche Formen der Zusammenarbeit. Was zählt, ist nicht nur die Heilung, sondern auch der Weg dorthin. Sein Film «Zwischenwelten» liefert keine Lösungen. Er sucht, hinterfragt und bleibt in der Rolle des Beobachters, der sich dem Rätsel des Heilens nähert, für das es keine eindeutige Antwort gibt. «Der Patient soll sich nicht mit der Krankheit, er muss sich mit der Gesundheit auseinandersetzen. Nur so kann Heilung passieren», meint André Peter, einer der acht Protagonisten.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kennt Appenzell Ausserrhoden ein Gesundheitsgesetz, das offen und liberal gegenüber Naturheilpraktikern ist. Sie stellen ihre Tinkturen und Wundsalben her. Im katholischen Innerrhoden gibt es mehr Gebetsheiler als Hausärzte. Von Ohr zu Ohr werden Namen und Adressen weitergereicht. Praktisch jede Familie in Appenzell kennt einen von ihnen. Doch keiner hat bisher vor laufender Kamera über seine Tätigkeit gesprochen.
André Peter heilt einen kranken Jungen
Das Schlusswort als Einstieg
Mit Michael König, dem bekannten Quantenphysiker und Autor des Buches «Das Urwort: Die Physik Gottes», endet der Film: «Das Unerklärliche, der Kosmos, die Zwischenwelten bleiben ein Rätsel, ein Widerspruch. Nicht aber die Energie, die damit einhergeht. Das Denken ist für mich wie ein Werkzeug. Wenn ich einen Nagel in die Wand schlagen will, muss ich einen Hammer in die Hand nehmen. Aber wenn ich den Nagel in die Wand geschlagen habe, kann ich ihn wieder weglegen. Mit dem Denken ist es so, die Leute laufen ständig mit dem Hammer durch die Gegend, obwohl sie keine Nägel einschlagen müssen. Das ist schon zwanghaftes Denken. In unserer Kultur haben die Menschen nie gelernt, nicht zu denken. Es ist also ein Zustand, der den meisten Menschen völlig fremd ist. Stattdessen rattert oben der Mentalprozess und verbrät fast alle Energie, die man eigentlich in sich sammeln könnte, um zu einem besseren Lebensgefühl zu kommen. Das Allerbeste ist, nicht zu denken.»
Eine der mystischen Appenzeller Landschaften
Ein Film über das Unsichtbare
Fast schon ein Ding der Unmöglichkeit ist es, einen Film über das Heilen zu drehen; denn das Wesentliche dieses Prozesses ist unsichtbar. Sichtbar und hörbar sind die äusseren Handlungen, Rituale und Worte, die einfühlsamen Kommentare und Erklärungen der Frauen und Männer.
Thomas Karrers Konzept, Regie, Kamera und Gabriela Betscharts zweite Kamera bilden mit ihrer Ruhe und Langsamkeit die Voraussetzung, dass wir den Protagonisten mit ihren authentischen und empathischen Erzählungen, Beschreibungen und Erklärungen folgen können. Unterstützt werden sie auch von Mirjam Krakenberger mit ihrer klugen Montage. Die musikalischen Improvisationen von Noldi Alder, Ficht Tanner und Laura Scammacca sowie die visuellen Highlights mit den grossartigen Landschaften und sensationellen Grossaufnahmen der Natur lassen uns eintauchen und mitschwingen.
Anna Fischer lebt und arbeitet als Heilerin
Der Autor Thomas Karrer
Thomas Karrer ist 1963 in Herisau geboren und aufgewachsen, lebt heute in Trogen. Seit 2006 arbeitet er als Dokumentarfilmer im Palais Bleu, einer Kunst-, Atelier- und Wohngenossenschaft, die das ehemalige Bezirksspital in Trogen übernommen hat. Im einstigen Operationssaal schneidet er seine Filme, was seinen Umgang mit Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit wohl beeinflusst. «Mein Bezug zur Gesundheit stammt aus meiner Kindheit. Mein Vater suchte und sammelte alles, was gesund ist und gesund hält. Er lag in den 1930er-Jahren drei Jahre lang mit Tuberkulose in einem Davoser Sanatorium. Vom Krankenbett aus sah er auf den Berg gegenüber und nahm sich eines Tages vor, diesen zu erwandern. Er spazierte jeden Tag aufs Neue los, bis er es nach drei Jahren schaffte, den Berg zu bezwingen. So habe ich von meinem Vater die Liebe zu den Bergen und den tiefen Zugang zur Gesundheit mitbekommen.»
(c) Tüüfner Poscht
Interview mit dem Regisseur
Woher stammt Ihre Faszination für die alternativen Heilmethoden im Appenzell? Da ich bereits zahlreiche Filme für das Museum im Appenzell realisieren durfte, bin ich als Filmemacher stark mit den Traditionen des Appenzellerlands verbunden. Diese gehen wiederum mit gut gehüteten Geheimnissen einher. So ist beispielsweise die Rezeptur der Sulze für den Appenzellerkäse oder jene des Alpenbitters bekanntlich streng geheim. Ähnlich verhält es sich mit den Gebetsheilern, die gegen «Hitz ond Brand» beten. Alle wissen, dass es sie gibt, aber öffentlich will niemand darüber reden. Dieser Aspekt hat mich sehr gereizt. Ich selbst habe einen langen Weg mit meinem Hautausschlag hinter mir und habe verschiedenste Heilmethoden ausprobiert, von der klassischen Medizin über die Homöopathie bis zur Naturheilkunde. Neugierde hat mich stets weitergetrieben. Schliesslich war es an der Zeit, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ausserdem war ich fest davon überzeugt, dass sich «Heilen» für einen Dokumentarfilm eignet und gleichzeitig etwas Persönliches sein kann.
Im Film ist oft die Rede von göttlicher Energie und Dankbarkeit. Wie verstehen Sie die Verbindung zwischen Religion und Naturheilkunde? Alle katholischen Bergregionen kennen das Phänomen der Gebetsheiler/-innen, so sind sie auch in Bayern, im Montafon und im Jura weit verbreitet. Ich denke, dass der Glaube und die eigene Heilkraft nah beieinander sind. Die Naturheilkunde braucht die Kraft der Heilpflanzen und die Kraft des Glaubens. Dabei geht es eher um die Frage, was ich glaube, und nicht, an wen. Die «göttliche» Energie wird als eine überdimensionale Kraft verstanden und muss nicht zwingend an einen Gott gebunden sein.
Weshalb geht das Thema der Gebetsheiler/-innen mit so viel Verschwiegenheit einher? Ich denke, die Angst, nicht öffentlich darüber reden zu wollen, ist vor allem eine Angst, nicht ernst genommen und als «Gesundbeter» belächelt zu werden. Da das Appenzell klein und überschaubar ist, findet eine grosse Sozialkontrolle statt. Deshalb habe ich die Regionalität bewusst ausgeweitet. Bei den spirituell schaffenden Geistheiler/-innen steht immer eine persönliche und prägende Lebenserfahrung oder ein Schicksalsschlag hinter dem Entschluss, ihre Gabe zu nutzen und als Geistheiler/-in zu arbeiten. Sie haben sich dazu entschieden, dank ihrer Fähigkeit zu helfen, ohne dabei ihr eigenes Ego in den Vordergrund zu stellen.
Wie sind die besonderen Naturaufnahmen entstanden, die jeweils zwischen den Begegnungen mit den Heiler/-innen stehen? Mit den Makroaufnahmen wollte ich den Vergleich zwischen Mensch und Natur stärken und den Blick auf das Unsichtbare schärfen. In der Natur finden wir alles, so auch unsere Entsprechung. Ein Makroobjektiv und ein Mikroskop ermöglichten es mir, detailgenaue Aufnahmen von Fasern und Strukturen festzuhalten und zu zeigen, was die Welt im Innern zusammenhält. Die Architektur einer Pflanze hat eine innere Harmonie, die Schöpfungskraft ist sichtbar und spürbar. Eine gesunde Pflanze will alles in Balance halten, genau wie wir selbst. Die Zuschauer/-innen sollen diese Makroaufnahmen für sich selbst interpretieren und den Freiraum nutzen, um über das Gehörte und Gesehene zu sinnieren.
Welche Wirkungen auf die Zuschauer/-innen wünschen Sie sich mit «Zwischenwelten»? Ich bin davon überzeugt, dass der Film in jedem Menschen etwas bewegen und bewirken kann, wenn er oder sie dafür empfänglich ist. Eine Reaktion an den Solothurner Filmtage war: «Der Film wirkt wie ein Medikament». Das hat mich gefreut.
Regie: Thomas Karrer, Produktion: 2019, Länge: 87 min, Verleih: cineworks