Aimer, boire et chanter

Eine Komödie wie aus dem Jenseits: Mit «Aimer, boire et chanter» verabschiedet sich der Altmeister Alain Resnais in Form einer heiter-tiefsinnigen Filmkomödie über das Menschlich-allzu-Menschliche.

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Alain Resnais (91) bei seinem letzten Dreh

Als Vermittler zwischen Kino und Publikum stelle ich «Aimer, boire et chanter» eine Empfehlung und gleichzeitig eine Warnung voran: Der 91-jährige Alain Resnais wurde mit diesem, seinem letzten Film an der diesjährigen Berlinale für sein innovatives Schaffen gleich mit drei Preisen ausgezeichnet. Das besagt doch, dass er sich noch mit seinem 25. Film über vertraute Sehgewohnheiten hinwegsetzt, was ästhetisch Konservativen missfällt, Progressiven gefällt. Auch für mich war das erste Sehen bloss ein ahnendes Verstehen, das zweite ein verstehendes Mitschwingen, das dritte dann aber ein begeistertes Vergnügen.
Mitten in die Proben der Theatergruppe von Kathryn und Colin trifft eine schreckliche Nachricht: Ihr Freund George, den sie seit ewig kennen, hat nur noch wenige Monate zu leben. Alle sind betroffen, Gefühlswirren früherer Tage und längst begrabene Lebensträume werden wach. Überraschenderweise bringt die Neuigkeit aber bald auch höchst amüsante Auswirkungen: Kathryn, Tamara und Monica beginnen, sich so heimlich wie heftig um die Gunst von George zu bemühen, jede will mit ihm noch einmal verreisen, sehr zum Leidwesen ihrer Ehemänner Colin, Jack und Simeon ...

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Colin (Hippolyte Girardot) und Kathryn (Sabine Azéma, im privaten Leben Resnais Gattin)

Aufbruch in filmisches Neuland
Berühmt wurde Alain Resnais 1955 mit «Nuit et brouillard», dem wohl wichtigsten Film über die Nazi-Konzentrationslager, 1959 mit «Hiroshima, mon amour», dem Hymnus auf die Liebe und das Vergessen, 1961 mit «L’année dernière à Marienbad», der die Nouvelle Vague mit dem Nouveau Roman vereint.
Wie schon seine früheren Filme «Coeur» und «Smoking No Smoking» basiert auch «Aimer, boire et chanter» auf einem Theaterstück des Briten Alan Ayckbourn, der mal sagte: «Ich versuche Kino zu machen mit meinem Theater, und Resnais macht Theater für das Kino.» Bei den meisten seiner 19 Spielfilme arbeitete er mit den gleichen Schauspielerinnen und Schauspielern, seiner «Familie», wie es eine Protagonistin bei der Premiere umschrieb.
Ähnlich wie «Vous‚ n‘avez encore rien vu» inhaltlich ein Alterswerk, abgeklärt und versöhnlich, und formal ein Jugendwerk, innovativ und verspielt. Das Filmplakat, auf welchem George, in eine Wolke eingetaucht, patriarchal und spitzbübisch über den sechs Frauen und Männern schwebt, trifft den Kern des Filmes. Der Regisseur reflektiert die Macht der Liebe und des Begehrens, lässt die Menschen ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und Obsessionen leben und ausgefahrene Gleise verlassen. «Man nimmt drei normale Paare, oder was man als normal bezeichnet, die sehr glücklich oder sehr unglücklich sind. Es genügt ein Ereignis, das sie aufwühlt». Dies also der Motor der Handlung.

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Tamara (Caroline Silhol) und Jack (Michel Vuillermoz)

Drei Duette und ein (abwesender) Solist
Die Akteure des Spiels. Theaterprobe. Kathryn, die Ehefrau von Colin, tritt dabei meist auf wie ein Wirbelwind. Sicherlich waren sie früher mal ineinander verliebt, doch davon ist heute beim kinderlosen Paar nicht mehr viel zu spüren. Sie fühlt sich unzufrieden wie ein ewiges Mädchen, trinkt versteckt, langweilt sich. Eingeengt in ihrem kleinen Leben entflieht sie in der Fantasie zu ihrem Theateridol George. Colin ist Landarzt, kommt aus bescheidenen Verhältnissen, führt ein geregeltes Leben und will nichts ändern. Er sammelt und repariert Uhren, von denen jede zu einem bestimmten Ereignis der Familie schlägt. Obwohl er als Arzt George schon mal nackt gesehen hat, bleibt dieser ihm fremd.
Jack kommt von einer Reise zu seiner Gattin Tamara zurück. Sie ahnt, dass in der Fremde etwas passiert ist, aber auch, dass zwischen ihr und George etwas passieren könnte, auch wenn er ihr zutiefst nicht viel bedeutet. Sie ist mitfühlend, gleichwohl aber misstrauisch. Jack hat in seinem Leben viel Geld verdient. Tamaras Leidenschaft war immer das Theater, bis sie es wegen ihrer Tochter Tilly aufgeben musste. Geheiratet hat er sie, weil er sie liebte. Doch heute hat auch er eine Geliebte, was jedermann weiss. Mit George verbindet ihn eine alte, enge Freundschaft. Dieser war Lehrer und hatte Tilly in seiner Klasse.
Auch Monica ist Lehrerin; mit George verlebte sie eines ihrer grossen Liebesabenteuer. Er übte einst auf sie eine grosse Faszination aus. Jetzt aber beginnt Monica eine neue Beziehung mit Simeon, zweifelt aber gleichzeitig daran. Sie ist die jüngste der drei Frauen, beneidet deren Sicherheit und Reife, ist aber überzeugt, dass ihr ein besonderer Platz zusteht, da sie mal Georges Geliebte war. Simeon ist ein Bauer, reich, verwitwet und jetzt neu verliebt, obwohl er bereits eine Geliebte hat. Gefühle kann er nur schwer ausdrücken, ist jedoch physisch präsent. Für die Menschen, die sich zum Theaterspielen treffen, fehlt das Verständnis.
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Monica (Sandrine Kiberlain) und Simeon (André Dussollier)

Ein Welttheater der andern Art
«Bevor er geht», so heisst es gegen Ende des Films, «hat er seinen Freunden die Augen geöffnet.» Vielleicht, wahrscheinlich, sicher auch uns: für eine andere Wahrnehmung der Welt, wie sie die Kunst zu bieten vermag, ohne Bewerten, Urteilen und Verurteilen, mit Verständnis für die Spiele und Spielchen und alles, was so abläuft zwischen Menschen im Welttheater ohne den grossen Schöpfer- und Erhalter-Gott. Einem Welttheater nicht im Sinne Calderons mit Himmel, Hölle, Paradies und Fegefeuer. Auch wenn die sechs Menschen in ihren Spielen wie von oben herab beobachtet werden, geht es hier nirgends um Psychologie oder Moral, sondern immer nur um reines Spiel, um Theater, um Film, um Kunst. In «Aimer, boire et chanter» ist alles künstlich. Die Häuser und Türen sind aus bemalten Leinwänden, die man wegschiebt, um rein- oder rauszugehen. Die Landschaften und Dekors sind gezeichnet oder koloriert. Heitere Musikeinlagen verleihen dem Film Leichtigkeit und etwas Ätherisches. Der «homo ludens» lässt grüssen.
Alain Resnais war gerade an der Arbeit für seinen 26. Film, als ihm in Berlin für «Aimer, boire et chanter» der Silberne Bär, der Alfred-Bauer-Preis und der Preis der Filmkritik zugesprochen wurde und er ihn hätte abholen können. Doch reisen konnte er schon nicht mehr, am 1. März starb er in Paris. Hinterlassen hat er uns sein künstlerisches Vermächtnis.

Regie: Alain Resnais
Produktionsjahr: 2013
Länge: 108 min
Verleih: Filmcoopi