An – Von Kirschblüten und roten Bohnen
Die drei Protagonisten Wakana, Tokue, Sentaro (v. l.)
«An – Von Kirschblüten und roten Bohnen» ist einer der Filme, die vom Unsichtbaren, vom Ungreifbaren, vom Geheimnis leben. Sie übersteigen das rationale Denken, haben etwas Mystisches, in das man sich hineinfallen lassen muss, will man es wahrnehmen und geniessen. In ihrem neuen Film geht es der Regisseurin Naomi Kawase darum, wie drei Menschen Wege finden von einem beschädigten in ein heiles Leben. Wenn dabei Kirschblüten eine Rolle spielen wie Menschen, ist das für uns etwas ungewohnt, im ursprünglichen Japan jedoch nicht. Denn in diesem Kulturraum ist die ganze Natur, sind auch Pflanzen und Tiere, ist das Licht und der Wind mit dem Menschen in einem persönlichen Kontakt. Langsam, unbeschwert und meditativ taucht die Geschichte aus der Gegenwart klärend in die Vergangenheit und am Schluss mit leiser Hoffnung in die Zukunft ein. Von der gleichen Regisseurin, dieser Magierin des Kinos, lief in der Schweiz 2011 bereits «Hanezu»: ähnlich schön und geheimnisvoll wie «An – Von Kirschblüten und roten Bohnen».
Die alte Dame, mit ihren Kochkünsten und ihrem Geheimnis
Der lange, intensive Weg vom Kochen …
Irgendwo in Tokio, umgeben von blühenden Kirschbäumen, steht Sentaros Imbissbude. Er verkauft Dorayaki-Pfannkuchen, die mit der leicht süssen, roten Bohnenpaste «An» gefüllt sind. Der Verkauf verschafft ihm ein akzeptables Einkommen. Zu seinen wenigen Kunden gehören Schülerinnen, die ihm zwar auf die Nerven gehen, die er aber trotzdem mag. Mit der stillen Wakana, einem Mädchen, das von seiner Mutter vernachlässigt wird, verbindet ihn eine stille Freundschaft. Eines Tages steht eine alte Frau, Tokue, vor dem Laden und bewundert die Kirschbäume, die in voller Blüte stehen. Nach anfänglichem Zögern spricht sie ihn an und bewirbt sich um die ausgeschriebene Stelle. Sentaro weist sie zurück, da sie wohl den körperlichen Strapazen nicht standhalten könne. Doch diese akzeptiert kein Nein, kritisiert sogar den Geschmack seiner Bohnenpaste und gibt ihm eine Kostprobe ihrer eigenen. Einen solchen Geschmack habe er noch nie erlebt, bestätigt er ihr. Wegen ihrer Offerte kommt Sentaro ins Grübeln. Als ihm Wakana rät, der Alten eine Chance zu geben, stellt er Tokue ein.
Von nun an stehen die beiden regelmässig vor Sonnenaufgang in der Küche, um die Bohnenpaste in einem präzisen, mit Liebe und guten Zutaten gestalteten Verfahren herzustellen. Stunden des Rührens und Wartens vergehen, in denen sich die roten Bohnen mit dem Wasser und dem Zucker vertraut machen und Sentaro von Tokue, wie in einem religiösen Ritual, deren Geheimnisse erlernt. Während sie den Rhythmus des Würzens und Kochens vorgibt, übernimmt er die schweren Arbeiten, welche die Alte mit ihren verformten Händen nicht mehr leisten kann. In den vielen Stunden des gemeinsamen Tuns entwickelt sich zwischen ihnen eine Verbundenheit, die dem Sich-Verbinden der Substanden der Bohnenpaste ähnelt. Sentaro beginnt zu verstehen, dass viel Zeit, zahllose sorgfältige Handgriffe und eine innere Verbundenheit mit den Zutaten ihre Spuren in der Bohnenpaste hinterlassen und irgendwann zu dem führen, was man Genuss nennt.
Der Bäcker, der sein Geheimnis akzeptieren lernt.
… zum Geheimnis der Kirschblüten und des Lebens
Die besondere Köstlichkeit der Dorayaki mit der nach Tokues Rezept hergestellten Bohnenpaste spricht sich herum. Bald stehen die Menschen vor dem winzigen Laden Schlange. Auch die Natur scheint sich an dem Erfolg zu erfreuen, denn nur selten blühten die Kirschbäume in derartig voller Pracht wie jetzt. Das Geschäft boomt, und Sentaro stellt fest, wie er plötzlich wieder Gefallen an seinem Leben findet und endlich wieder Lust zum Lächeln verspürt. Bis eines Abends die Inhaberin der Imbissbude vor der Tür steht und die Kündigung von Tokue verlangt. Denn unter den Leuten sind schwerwiegende Gerüchte über Tokues verformte Hände im Umlauf. Sie habe Lepra, heisst es hinter vorgehaltener Hand. Sentaro, der bei der Besitzerin grosse Schulden hat, kommt in Schwierigkeiten, betreibt deshalb, entgegen der Aufforderung seiner Chefin, den Laden mit Tokues Hilfe weiter. Doch bald bleibt auch die Kundschaft weg.
Die alte Frau versteht das Verhalten der Menschen wegen der Lepra, die sie früher wirklich hatte, und schreibt Sentaro einen Brief, der ihre Kündigung und eine Entschuldigung enthält. Das Leiden ihrer Vergangenheit wurde in der Freundschaft mit Sentaro und Wakana geheilt. Auf einer hinterlassenen Tonkassette spricht Tokue: «Wissen Sie, Herr Chef, wir kommen auf diese Welt, um sie zu bestaunen und zuzuhören. Auch wenn wir im Leben nichts erreichen, können wir in unserem Dasein einen Sinn finden.»
Das Mädchen findet eine neue Heimat.
Aus einem Interview mit der Regisseurin Naomi Kawase
Wie kam Ihnen die Idee, den Roman von Durian Sukegawa zu verfilmen?
Ich las das Buch und war sofort davon angezogen, mit welcher Sorgfalt es die Präsenz dessen nachzeichnet, was im Leben oft unsichtbar bleibt. Kino ist das Mittel, mit dem wir die Realität durch das Sichtbare erschaffen, gleichzeitig glaube ich, dass Kino auch die Präsenz des Unsichtbaren erschaffen kann und es für das Publikum sichtbar macht.
Wie persönlich ist der Film? Wie haben Sie die Geschichte des Buches adaptiert?
Als ich das Drehbuch schrieb, habe ich mich oft in der Bibliothek des Sanatoriums für Leprakranke und für ehemalige Leprapatienten aufgehalten. Ich verbrachte meine Zeit auch damit, im Wald des Sanatoriums spazieren zu gehen, das Licht und die Winde auf mich wirken zu lassen, mit einigen der ehemaligen Patienten zu sprechen, um mehr Realität in mein Drehbuch einfliessen zu lassen und um die literarische Sprache in eine filmische zu übersetzen.
Die drei Hauptfiguren sind einsame Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht dazugehören.
Keiner kann alleine leben, das denke ich über uns als Menschen. Auch haben die meisten von uns bereits Fehlschläge erlebt. Manchmal können solche Schicksalsschläge ein Leben dramatisch ändern. Trotzdem kann ein jeder von uns die Kraft aufbringen, sein Leben weiterzuleben, egal was passiert, und ich glaube, das ist in uns, von Natur aus. Im Film sehen wir Tokue, die um ihre Lebenszeit gebracht wurde, und dennoch viel von der Situation, der sie ausgesetzt wurde, gelernt hat. Die Hilfe und das Wissen, welches sie weitergibt, hilft den beiden anderen Protagonisten, ihren eigenen Weg zu finden, an sich selbst zu glauben, und ihren eigenen, wenn auch kleinen, Schritt im Leben vorwärts zu machen.
Bedingt die Gesellschaft solche Ausschlüsse? Oder schaffen die Menschen ihre eigenen Grenzen?
Ich habe das Gefühl, dass Menschen in der heutigen Gesellschaft sich ihre eigenen Grenzen schaffen. Auf einer allgemeineren Ebene kann die erneute Konsequenz daraus sein, dass wir mental und praktisch versuchen, die anderen loszuwerden. Manchmal kann jemand, der von Weitem böse aussieht, weinen, wenn wir nah genug an ihn herantreten. Solch eine Person sucht vielleicht einfach nach der Wärme anderer.
Auch wenn dieses Mal die Handlung lediglich in der Stadt spielt, ist die Natur auch in «An» bedeutend.
Im Wesentlichen ist die Rolle der Natur in diesem Film in keiner Weise anders als in meinen früheren. Die Natur bewacht uns Menschen still und leise. Kirschbäume zum Beispiel sprechen kein Wort, aber sie verstehen und akzeptieren, was und wie wir sind. Sie erblühen jeden Frühling, egal was passiert. Das finde ich entzückend.
Denken Sie, dass einfache Dinge wie Rezepte das Leben verändern können?
Ja, das denke ich. Und ich muss zugeben, dass ich unglaublich gerne esse und leckeren Speisen nicht widerstehen kann. Gutes Essen macht mich glücklich.