Balkan Melodie

Der Film «Balkan Melodie» von Stefan Schwietert erzählt von Marcel und Catherine Cellier, die ihre gemeinsame, lebenslange Leidenschaft für die Musik Osteuropas auslebten und uns so vermitteln.

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Marcel und Catherine Cellier blicken auf ihr Werk zurück.

Inmitten des Kalten Krieges durchbrach das Paar alle Grenzen, sammelte auf teils abenteuerliche Weise die bis dahin im Westen unbekannten Klänge aus dem Osten. Mit unzähligen Radiosendungen und Millionen Schallplatten öffneten sie Musikern wie dem rumänischen Panflötenvirtuosen Gheorghe Zamfir und den legendären Frauenstimmen von «Le Mystère des Voix Bulgares» den Weg zum Ruhm. Im Kontrast der Begegnungen von damals und jenen von heute wird gleichzeitig ein Stück Zeitgeschichte aufgerollt, das von der Veränderung der Menschen unter verschiedenen politischen Systemen und gleichzeitig von der Unsterblichkeit zeitloser Musik erzählt. Der junge Schweizer, seinerzeit Vertreter einer Metallhandelsfirma, reiste mit seiner Frau Catherine hinter den Eisernen Vorhang. Fasziniert von den entrückten Melodien aus dem Autoradio wiederholte der Musikbegeisterte mit seiner fotografierenden Frau solche Reisen vom Schwarzen Meer bis an die Ostsee durch die Hauptstädte und Provinzen, in denen die Volksmusik fester Bestandteil des täglichen Lebens war. Über vierzig Jahre lang sammelten und dokumentierten die beiden die herausragendsten Beispiele der Musik des Balkans (ohne exakte Grenzziehung zwischen den bereisten Ländern).

Vom Mysterium der Stimmen und Klänge

Auf den Spuren der Celliers bereiste in den letzten Jahren der Filmemacher Stefan Schwietert Osteuropa. Ausgestattet mit den alten Musikaufnahmen, Reisetagebüchern, Fotos und Super-8-Material begann seine Expedition in Rumänien, um Musiker, Sängerinnen und Orte von damals zu treffen. In Bukarest arbeitet der ehemalige Plattenmillionär Gheorghe Zamfir heute verarmt und unglücklich als Musiklehrer. In Maramuresch im Norden Rumäniens lebt eine Handvoll Musiker, deren Musikerdasein durch den Kommunismus «verstaatlicht» worden ist. In Bulgarien trifft er auf die legendären Sängerinnen von «Le Mystère des Voix Bulgares», deren Weg in den kleinen kommunistischen Bergdörfern begann und auf die grossen Bühnen des Westens führte. Und schliesslich trifft er die Zigeuner-Formation «Mahala Rai Banda», welche die traditionelle Musik erfolgreich ins neue Jahrtausend hinüberrettete.

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Ioan Pop und die Grupul Iza spielen in Fabriken

Die Retter und Vermittler der Musik …

Marcel Cellier wurde 1925 in Zürich geboren, stammt aus einer hugenottischen Darbystenfamilie und wird äusserst puritanisch erzogen. Tanz und Theaterbesuche sind bei ihnen als Frivolitäten verpönt. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wird der Junge von Anfang an von der Sinnlichkeit der Musik angezogen. Er lernt dank seines absoluten Musikgehörs von der Flöte bis zum Cello jedes ihm zugängliche Instrument. Die Eltern zwingen ihn jedoch zu einer Banklehre, er wird Kaufmann und arbeitet bis zu seiner Pensionierung für eine Schweizer Erz- und Metallfirma in Osteuropa. «Ich hatte mit Silizium, Kupferminen und Manganerzen zu tun und stiess auf eine Goldmine, nämlich die noch lebendige Volksmusik», meint er in der Rückschau. Bereits 1950 auf seiner ersten Reise nach Bulgarien begleitete ihn seine künftige Frau Catherine. Im Auto hatte sie ein kleines Emerson Radiogerät auf den Knien, mit dem sie Radio Sofia, Bukarest und Skopje empfangen konnten. Da hörten sie erstmals die beschwörenden, bei uns noch unbekannten Stimmen und Instrumente mit ihren fremdartigen Klangfarben und Modulationen der autochthonen Musik dieser Länder.

… die Protagonisten

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Zamphir, heute als alternder Lehrer in der Musikschule

Gheorghe Zamfir, der den Älteren von uns noch wohlbekannt sein dürfte, kam 1941 in den südlichen Karpaten zur Welt. 1968 stellt der Leiter des Folklore-Instituts in Rumänien Marcel Cellier den im Westen noch unbekannten Panflötenvirtuosen vor. Zu dieser Zeit hat dieser als staatlich ausgebildeter Folkloremusiker und Teil der vom kommunistischen Regime geförderten Festival- und Fernsehkultur rund um die Volksmusik national bereits einen Namen. Nach seiner Entdeckung veröffentlichte er in seinem Leben über 200 Alben und CDs, verkaufte über 40 Millionen Tonträger, erhielt 90 Gold- und Platinschallplatten und trat in den grossen Sälen aller fünf Kontinente auf. Zum Weltstar wurde er jedoch erst mit Evergreens und Filmmusiken, sein Sound trifft den Zeitgeist der Post-Hippie-Generation.

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Die Frauen mit den geheimnisvollen Stimmen

In Bulgarien existierte eine lange Gesangstradition der Frauen, die als «Le Mystère des Voix Bulgares», bis in die Zeit der Thraker zurückreichte. Sie lebte bis zum Ende des Sozialismus in allen Regionen des Landes als Teil des Alltags weiter. Die kehligen Stimmen der Frauen haben eine einmalige, ätherische Qualität. Die bewusst eingesetzten Dissonanzen kreieren eine schwebende beinahe hypnotische Atmosphäre.

Weiter sehen und hören wir im Film den Bauernsohn Ioan Pop. Bereits als Kind lernte er nach Gehör und ohne Noten die populären Instrumente zu spielen, trat an Hochzeiten und anderen Festen zum eigenen Vergnügen und um sich die Schule zu finanzieren auf. Mit knapp zwanzig wurde er vom Folk-Ensemble Baia Mare engagiert, mit dem er zehn Jahre lang auf Tourneen ging. Er beurteilt den Einfluss des Kommunismus auf die lokale Folklore kritisch: Die alten Bräuche und Lieder, die vorher im Alltag integriert, zu Hause, auf dem Feld, bei der Arbeit oder zu besonderen Feiern in den Dörfern stattgefunden haben, werden jetzt auf die Bühne geholt und dort, von jedem realen Zusammenhang losgekoppelt, als Kunstform präsentiert. 2000 gründete er die Formation «Grupul Iza», mit der er den reichen musikalischen Schatz der Gegend in die Zukunft überführen will.

Mit «Aurelio Ionita und die Mahala Rai Banda» kommt eine Stimme der jüngeren Generation zu Wort, die jedoch die postkommunistische Entwicklungen im Musikgeschäft genau durchschaut hat: «Nach dem Fall des Kommunismus gab es kein grosses Interesse mehr für die eigene Musik. Wir hörten vor allem Musik aus dem Ausland, von überall her.» Doch ihn beeindruckte weiter die eigene Musik, für die er sich auch weiter einsetzt.

… und der Filmemacher Stefan Schwietert

Zusammen mit Marcel und Cathrine Cellier hat der Schweizer Filmemacher Stefan Schwietert diesen Film realisiert und damit der Musik des Balkans ein würdiges und gültiges Denkmal gesetzt. Mit «Heimatklänge» (2007), «Accordion tribe (2004), «Das Alphorn» (2003), «El acordeon del diablo» (2000) und «A tickle in the heart» (1996) schuf Schwietert sich den Titel als der weitherum beste Musikfilmer. Mit seinem neuen «Balkan Melodie» (2011) zeichnet er ein facettenreiches Fresko mit bewegenden Begegnungen mit Musikanten und Sängerinnen und herausfordernden Auseinandersetzungen zwischen Ost und West. Er geht mit uns auf eine musikalische Erkundungsreise ins unergründliche Reich der Klänge, welche damals wie heute begeistern. Der Wert des Films beruht für mich darin, dass hier die Musiker und Sänger ihre Musik und Gesänge leben und uns erleben lassen. Seine Schönheit darin, dass hier Musik und Gesang zwar von Ideologien ausgelöst werden, doch diese gleichzeitig immer wieder überwinden. Die Musik verbindet Gegensätze, der Gesang sprengt Grenzen: zwischen den Generationen, den Ideologien, den gesellschaftlichen Gegebenheiten.

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