Béjard – Le coeur et le courage

Filmporträt des bedeutenden Choreograph Maurice Béjard und von Til Roman, der jetzt nach dem Tod des Meisters der Truppe vorsteht. Für Ballettfreunde ein Muss, und wer dies noch nicht ist, wird es mit diesem schönen und gehaltvollen Film von Aranxta Aquirre bestimmt werden.

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Der Choreograph Maurice Béjard (1927 bis 2007) gilt als einer der hervorragenden Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Er hat die Kunst des Tanzes revolutioniert und auf der ganzen Welt massenweise ein neues Publikum für das Ballett gewonnen. Während seiner langen Karriere wuchs er mit seinen Kreationen immer wieder über sich hinaus. Unter anderem haben sich Werke wie «Le Sacre du Printemps», «Der Feuervogel», «Boléro», «Zarathustra» oder «Messe pour le temps présent» fest in der Erinnerung und in den Herzen des Publikums eingegraben, sind zu Klassikern der Moderne geworden.

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«Le coeur»: Das Herz des grossen Meisters

Béjard war ein Künstler mit stets offenem und neugierigem Geist, der von einer wunderbaren und mächtigen Inspiration erfüllt war und mit seinem Charisma eine Truppe geformt hat und reif werden liess. Gegen Ende der 1960er Jahre inszenierte er Gesamtkunstwerk, in welchen unter seiner Regie Sprache, Musik, Bühne und Tanz eine neue Einheit, eine Totalität bilden. In seinen bildreichen und spektakulären Aufführungen emanzipierte er die männlichen Tänzer von ihrer Rolle als Hebepartner von Ballerinen und erlaubte ihnen eine eigene Subjektivität auf der Bühne. – Vor allem der erste Teil des Dokumentarfilms der Spanierin Aranxta Aquirre stellt Béjard und sein Schaffen bis zu seinem letzten Werk «Le tour du monde en 80 minutes» vor, welches am 20. Dezember 2007 in Lausanne uraufgeführt worden ist.

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«Le courage»: Die Herausforderung für den Nachfolger

Béjards Tod drei Wochen vor der Uraufführung bedeutete nicht nur einen schweren Verlust für die Welt der Kunst, sondern auch eine Katastrophe für sein Ensemble. Vierzig Tänzer aus fünf Kontinenten – die letzten, die noch direkt mit dem Meister zusammengearbeitet hatten – waren verwaist und hatten nun um ihren Fortbestand zu kämpfen. Auf dem Spiel stehen ihre Träume, ihre Illusionen und Hoffnungen. Noch immer erschüttert vom Ableben des Meisters, standen sie vor der Herausforderung, als Ensemble weiterzufahren. «Um seine Werke und Ballette fortzuführen, zu bewahren und zu verwalten», hatte er den französischen Tänzer Gil Roman, der seit 1979 seinem Ensemble angehörte und als enger Mitarbeiter und Vertrauter galt, zum Nachfolger ernannt. Gil hat die Herausforderung angenommen und in Lausanne, wo das Ballett beheimatet ist, 2008 eine erste Aufführung gestartet und zum ersten Erfolg gebracht. – Der Arbeit des Ensembles unter neuer Leitung ist vor allem der zweite Teil des Films gewidmet, der mit der Premiere ihres ersten eigenen Werkes endet.

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Tanzen heisst Leben; Leben ist alles – und mehr

Wie in der Kunst üblich gilt auch hier ganz banal der Entscheid der Truppe: «The show must go on.» Doch in diesem Film enthält der Satz eine tiefe, existentielle Dimension, wie überhaupt der ganze Film über das hinausgeht, was üblicherweise Ballettfilme bieten. Er stösst zum Grund vor, was Kunst ist, wo Kunst entsteht. Er beantwortet die Frage, was Kunst soll, was ihr Sinn ist.

Nicht nur sprechen einige Mitglieder der Truppe explizit davon, dass Maurice da sei, wenn sie tanzen, es gibt hier so etwas wie eine «communio mystica» unter einander, mit uns und mit etwas Unbenanntes darüber. Was diese Tänzerinnen und Tänzer mit ihren Körpern, von den Zehen- bis zu den Fingerspitzen, in jeder Phase ihrer Muskeln. in ihrer Gestik und Mimik, ausdrücken, ist die Totalität dessen, was menschlicher Ausdruck sein kann, was MENSCH-SEIN heissen kann. Sie bilden DEN Menschen ab. In all seinen Ausdrucksformen: im Streben, Sehnen, Kämpfen, Trauern, Lieben: einfach DAS Leben. Zur Bewegung erweckt durch die Musik bedeutender Komponisten aus allen Epochen und Ländern, die immer das GANZE der Welt meint. Der Mensch auf der Bühne und im Film übersteigt sich, wird übermenschlich und bleibt dennoch liebenswürdig menschlich.

Ich vermute, ich bin nicht der einzige Zuschauer, dem es im Film kalt und heiss über den Rücken läuft, der erschüttert ist von der Macht dieser künstlerischen Katharsis, welche – ich scheue mich nicht zu sagen – Göttliches erlebbar macht.

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Mit Mehrwert für den Alltag

Nicht nur dass der Film in religiöse Dimensionen weist, er gibt auch für das alltägliche Leben, beispielsweise die Arbeit, Anregungen, An-Sichten, Durch-Sichten und Ein-Sichten: mit den bewegten Körpern, den bewegten Menschen. Denn wie diese Künstler arbeiten, übersteigt das, was landläufig als Arbeit verstanden wird. Wie trivial kommen einem da die Versuche arbeitspsychologischer Seminare und Beraterbücher vor, welche für die das Arbeiten in Wirtschaft, Verwaltung, Führung und Wissenschaft empfohlen werden. Wie leer erscheint einem die Diskussion über die Aufgabe der Schule und deren Lehr- und Lernziele, welche Politiker und Wissenschaftler postulieren, angesichts der der Arbeit der Truppe von Maurice Béjard. Es lohnt sich, den Bildern dieser Tänzerinnen und Tänzer zu folgen, und wir beginnen zu ahnen, dass Arbeit auch «creare», neues Schaffen, Erschaffen bedeuten kann.

Und was erst erleben, erfahren, entdecken und lernen wir durch das Sehen und Hören der Werke dieser Tänzerinnen und Tänzern über Kommunikation (jenseits verschleierter PR-Machenschaften), Leistung (jenseits der Pisa-Tändeleien), Motivation (jenseits übler Werbestrategien), Energie (jenseits der inhumanen Limiten des Leistungssports), Integration (jenseits veralteter und destruktiver Ideologien) oder über Teamentwicklung, Stress usw. usf.!