Camille

Fotografieren angesichts des Todes: Camille Lepage reiste nach Zentralafrika, um mit ihrer Kamera über den dortigen Bürgerkrieg zu informieren, und wurde dabei getötet. Boris Lojkine hat darüber den Film «Camille» gedreht, der berührt und Fragen stellt. – Ab 20. Februar im Kino
Camille

Nina Meurisse, eine glaubhafte Camille Lepage

Von 2013 bis 2015 wüteten Bürgerkriege in Zentralafrika. Die Séléka trafen auf die Anti-Malaka-Milizen, somit kämpften Muslime gegen Christen. Es gab Tausende von Toten und eine Million Umsiedler. Camille Lepage berichtete von Oktober 2013 bis Mai 2014 darüber. Möglicherweise haben wir Fotos von ihr gesehen, doch die Fotografin wohl kaum gekannt, bis am 12. Mai 2014 die Nachricht ihres Todes zirkulierte. Mit ihren Bildern wollte sie helfen, dass dieser Konflikt bei uns wahrgenommen wird.

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Camille, inmitten der Bevölkerung

Der Filmemacher, die Fotografin und ihr Thema

Boris Lojkine, der Regisseur des dokumentarischen Spielfilms «Camille», wurde 1969 geboren, lehrte an der Aix-Marseille Université Philosophie, bevor er zum Film kam. Zunächst machte er Dokumentarfilme, die von seiner Zeit in Vietnam inspiriert waren. 2013 drehte er in Afrika seinen ersten Spielfilm, «Hope», der mehrfach ausgezeichnet wurde; 2019 erhielt er für «Camille», neben anderen Preisen, in Locarno den Publikumspreis. Der Film schildert die letzten Monate im Leben der 26-jährigen Camille Lepage, bis sie in einen Hinterhalt gelockt und mit andern zusammen erschossen wurde.

«Camille» ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die sich als Fotografin engagierte, sondern gleichzeitig ein anregender Diskurs über das Fotografieren in Kriegsgebieten. (In eine ähnliche Richtung kann die Diskussion führen, wenn «Camille» mit «Chris the Swiss» von Anja Komel verglichen wird.) Am Festival «Visa pour image» und mit Journalistengruppen wurde intensiv und kontrovers diskutiert: über die Berufsarbeit, die Medienkommunikation und letztlich die Frage nach der Wahrheit. Camille, 1988 in Angers in Westfrankreich geboren, ist ausgezogen, um als Fotojournalistin zu arbeiten, anders als die meisten Kriegsreporter, die von einem Konflikt zum nächsten zappen, nur kurze Zeit im Land verbringen, um Schockfotos zurückzubringen. Sie wollte in der Nähe der Einheimischen leben, denn sie fühlte sich diesen Menschen verbunden. Dafür erlernte sie das Metier à fond. Als Erstes fuhr sie in den Südsudan, bevor sie im September 2013 in die benachbarte Zentralafrikanische Republik reiste, um über den soeben begonnenen Bürgerkrieg zu berichten, für den sich die Medien noch nicht interessierten. In der Hauptstadt Bangui knüpfte sie Kontakte mit Schülern ihres Alters. Zu dieser Zeit rebellierten die muslimischen Séléka, die den Präsidenten gestürzt hatten, brandschatzten und plünderten; als Reaktion stürmten die Christen mit ihrer Selbstverteidigungsmiliz Anti-Balaka die Hauptstadt, und es begannen beispiellose Gewaltausbrüche, die Camille mit ihrer Kamera festhielt.

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Einsatz unter Todesdrohung

Was in Zentralafrika und mit Camille Lepage zuvor geschah


Die Geschichte der Zentralafrikanischen Republik ist seit dem 19. Jahrhundert geprägt von der französischen Kolonialzeit, der Unabhängigkeit ab 1960, dem Zentralafrikanischen Kaiserreich (1976 – 79) unter Bokassa und seit den 1990er Jahren von Demokratisierungsversuchen und Kriegen. Als Camille in Bangui mit dem Krieg konfrontiert wurde, war sie geschockt. Sie stiess in einer Leichenhalle und auf den Strassen auf Opfer eines Massakers, das sie fotografieren musste. Dabei warf sie einen Blick in die Hölle, der ihr Leben veränderte! Es gelang ihr, die Fotos an eine französische Zeitung zu verkaufen. Zu Weihnachten 2013 kehrte sie zu ihrer Familie nach Hause zurück, wusste aber, dass sie wieder gehen werde. Zurück im Kriegsgebiet gelang es ihr, in eine Gruppe von jungen Rebellen der Anti-Balaka aufgenommen zu werden, um so die Realität von innen einfangen zu können. Doch suchte sie stets auf beiden Seiten den Menschen und die Humanität.

Am 5. Dezember ändert alles. Bei Kämpfen zwischen den Anti-Balaka und den Séléka wurden fast tausend Menschen getötet. Die Massaker führten dazu, dass der französische Präsident François Hollande beschloss, die Operation Sangaris zu starten. Truppen wurden eingeflogen, ohne dass die Spirale der Gewalt gestoppt werden konnte. Denn während die Muslime entwaffnet wurden, griffen die nach Rache dürstenden Christen an, und der Bruderkrieg ging weiter.


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Mit Blick auf die andern, auf dem Weg zu sich

Das Werk des Filmemachers

 

Um das Drehbuch schreiben zu können, aus dem am Schluss ein starker, gut komponierter Film entstand, hatte Boris Lojkine intensiv recherchiert. Er traf Camilles Familie, Verwandte und Freunde, aber auch ihre Kollegen. Er fuhr an eine Portfolio-Lesung ihres Oeuvres und dann in die Zentralafrikanische Republik, um die verschiedenen Seiten des Konflikts kennenzulernen. Ein Glücksfall war für ihn und den Film die Schauspielerin Nina Meurisse in der Rolle von Camille, authentisch und differenziert. Überzeugend ist auch, wie Lojkine, mit Elin Kirschfink an der Kamera und Xavier Sirven als Cutter, die Szenen derart vielschichtig und differenziert drehen konnte. Faszinierend auch, wie die Fotos von Camille in den Film eingebaut wurden und wir das Gefühl bekommen, dass das, was wir sehen, das ist, was Camille gesehen und fotografiert hat.

Lojkine erfand drei Studenten als Leitfiguren: Cyril, den jungen Rapper, der Anti-Balaka-Kämpfe wird; Leila, die Tochter eines Muslims und einer Christin; Abdou, der ins Exil gezwungen wird. Reale Menschen haben diese Figuren inspiriert, die, wie auch die Journalisten, fiktiv sind. «Camille» erweist sich als gelungene Mischung aus Fiktion und Non-Fiction, doch stets einer dreifachen Wahrheit verpflichtet: gegenüber der Protagonistin, dem Fotojournalismus und der Politik.

Eine Tragödie! Oder nicht?

Camille Lepage folgte, so beschreibt sie der Film, einem inneren Drang, die Menschen im zentralafrikanischen Bürgerkrieg zu fotografieren, um sie mit ihren Bildern ins Bewusstsein der Menschen in Europa zu bringen. Aus Mitgefühl, Solidarität, vielleicht auch dem Bewusstsein, dass alle Menschen zusammen die menschliche Gemeinschaft bilden. Radikal gedacht und danach gehandelt, erlebte Camille die «Nächsten» in den «Fernsten». – In diesem Sinne ist Camilles Tod ein schmerzliches Unglück, eine Tragödie.

Versteht man, wie es heute immer häufiger geschieht, die Aufteilung der Menschheit in das «christliche Abendland» und die übrige Welt, je nach Überzeugung, die Welt des Islam, der Araber usw., dann gehören die Menschen im Film nicht zu den «Nächsten», sondern zu den «Fernsten», die mit Vorteil aus dem Bewusstsein und schliesslich aus der Welt vertrieben werden müssten. – In diesem Sinn ist der Tod von Camille keine Tragödie, sondern ein Zufall, ein Fauxpas.

Regie: Boris Lojkine, Produktion: 2019, Länge: 90 min, Verleih: trigon-film