Damen und Herren ab 65
Gefragt ist ein Film zum Thema Politik. Was liegt gegenwärtig näher als «Fahrenheit 9/11» von George Moore oder «Super Size Me» von Morgan Spurlock, zwei amerikanische Pamphlete gegen Georges W. Bush respektive die Fastfoot-Esserei. – Doch hier soll nicht darauf verwiesen werden, sondern auf einen deutschen Dokumentarfilm, der beim ersten Hinsehen einfach schön ist, beim zweiten genaueren Hinschauen jedoch eine eminent politische Dimension enthält und uns zudem näher liegt als jene US-Streifen, nämlich «Damen und Herren ab 65».
Der Dokumentarfilm «Damen und Herren ab 65» von Lilo Mangelsdorff wurde 2003 von der Deutschen Filmkritik als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Er ist die filmische Neuauflage des fünfundzwanzig Jahre alten Klassikers des modernen Tanztheaters «Kontakthof» von Pina Bausch und ihrem Wuppertaler Ensemble. Er handelt von dreizehn Männern und zwölf Frauen, die das Stück einübten und aufführten.
Fordern fördert
Niemand der fünfundzwanzig von 150 ausgewählten Personen konnte sich genau vorstellen, was auf sie zukam. Und dennoch hatten sie sich für das Experiment entschieden und sich ins Neuland vorgewagt. Sie erlebten dabei Erfolge, aber auch Misserfolge und kamen gelegentlich an ihre Grenzen. Doch angefeuert durch die Leiterin, aufgehoben in der Gruppe und bestätigt durch die allmählich sich einstellenden Teilerfolge, erlebten sie immer neue Selbstbestätigung.
Sie arbeiteten über Jahre mit höchster Konzentration, übten die Koordination all ihrer Sinne, Glieder und Bewegungen. Sie wagten aus sich heraus zu treten, ausgelassen zu sein, Gefühle wie Angst, Ablehnung, Aggression, Sehnsucht, Zärtlichkeit, Lust, Liebe, Begierde, Freude und Versöhnung zu zeigen.
Spielen befreit
Alle Formen des Spiels lockern und befreien, weil echtes Spiel sich nie dem Zweck unterwirft, sondern zweckfrei auf den Sinn hinsteuert. Durch diese Lockerung lässt es die Menschen Facetten von sich entdecken, die vergessen oder verschüttet sind. Was tief drin in diesen alten Menschen geschieht, zeigt uns die Kamera von Sophie Maintigneux, die dafür auch mehrfach ausgezeichnet wurde.
Der Film macht erlebbar, was im Alltag geschlummert hat und gibt ihm Gestalt. Die Spielenden erfuhren sich während der Arbeit als geistig beweglicher als zuvor, weil sie körperlich beweglicher wurden. Die Körpersprache, «die Gebärdensprache ist die eigentliche Muttersprache der Menschheit», schreibt der ungarische Filmtheoretiker Béla Balász und meint weiter: «In der Kultur der Worte wurde unser Körper als Ausdrucksmittel nicht voll gebraucht und darum hat er auch seine Ausdrucksfähigkeit verloren, ist unbeholfen, primitiv, dumm und barbarisch geworden.»
Die Politik der Körper und der Gruppe
Pina Bausch gelingt hier eine überzeugende Ritualisierung der Alltagsbewegungen. Sie transformiert Natur in Kunst. Durch ihre Intuition trifft sie die Befindlichkeit der Alten und macht bei ihnen Energien frei, auch wenn diese die Bedeutung der hoch stilisierten Bewegungen, Gesten, Mimik, Worte und Klänge oft nicht auf Anhieb verstehen. Sie schafft Sinnbilder der zwischenmenschlichen Beziehungen, thematisiert sie, dekliniert oder konjugiert sie durch.
Die Frauen und Männer sehen sich und die andern. Sie entdecken, wie sie zu neuem Leben erweckt, wie sie neu geboren werden. »Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden», schreibt Erich Fromm. Und was gibt es Politischeres als Leben schaffen, Menschen zum Leben erwecken! Dafür wird es gelegentlich auch nötig, Regeln, Gewohnheiten, Normen, die Political Correctness, ja selbst Tabus über Bord zu werfen.
Der spielende (alte) Mensch
In diesem Dokumentarfilm wird im Spiel thematisiert, was der Politik meist schwer fällt: im Gespräch seine Meinung zu ändern, die andern wirklich wahrzunehmen, allmählich aus dem Ich und dem Du ein Wir entstehen zu lassen.
Der Choreografin und dem Filmteam gelingt es auf wunderbare Weise, die Idee des «homo ludens», des «spielenden Menschen», den Johan Huizinga als Definition des Mensch-Seins vorgeschlagen hat, auf eine zeitgemässe und älteren Menschen angepasste Weise Kunst – und übertragen – Politik werden zu lassen.