Das Leben drehen

Gefilmtes Leben: Als Eva Vitija volljährig wurde, bekam sie von ihrem Vater, Joschy Scheidegger, einen abendfüllenden Film über ihr bisheriges Leben. Ihre Antwort: der Dokumentarfilm «Das Leben drehen».
Das Leben drehen

Joseph (Joschy) Scheidegger schuf nicht nur ein riesiges Oeuvre beim Fernsehen, Radio und fürs Kino, sondern dokumentierte auch seine Familie auf zwanghafte Weise. Vergeblich hatte seine Tochter Eva versucht, seiner Kamera zu entkommen. Erst sein Tod bewog sie, seine Filme und seine Kamera zu übernehmen, und sie tat, was ihr zuvor im Traum nie eingefallen wäre, sie sichtete das Material und drehte einen Film über ihren Vater.

Der öffentliche Joschy Scheidegger

Joseph Scheidegger (1929 – 2012) begann seine Karriere am Bühnenstudio Zürich, wo er zusammen mit den Besten der deutschsprachigen Bühne das Handwerk lernte. Nach ersten Theateraufführungen spielte er 1948 im abendfüllenden Werbefilm «Familie M». Es folgten weitere Engagements, u. a. mit Emil Hegetschweiler. In den folgenden Jahren arbeitete er am Schauspielhaus Zürich und Stadttheater Basel, am Stadttheater Wiesbaden und an den Münchner Kammerspielen. Nach einigen Jahren in als «jugendlicher Liebhaber und Naturbursche» nahm er beim Radio Basel eine feste Stelle als Nachrichtensprecher, dann Hörspielregisseur und schliesslich Abteilungsleiter an. In dieser Funktion realisierte er technisch und künstlerisch innovative Projekte wie das erste Schweizer Hörspiel in Stereo. Danach wechselte er zum Fernsehen, wo er Fernsehspiele produzierte und als Hörspielsprecher, Reporter und Übersetzer wirkte. Später führte er auch hier Regie und wurde Ressortleiter. Gleichzeitig arbeitete er fürs Kino, so in «Polizischt Wäckerli» und «Oberstadtgass». Bald danach war er regelmässig als Regisseur und Drehbuchautor tätig, so für «De Tod uf em Öpfelbaum» und «Landflucht», dem ersten auch ausserhalb des Studios gedrehten Film, sowie bei mehreren Episoden der Serie «Motel». In den folgenden Jahren entdeckte er für sich den Reportagedokumentarfilm. Auch im Kino trat er wieder sporadisch auf, in «Reise der Hoffnung» von Xavier Koller und in «Vollmond» von Fredi M. Murer.

Eva Vitija, Joschys Tochter und Regisseurin, zum Film

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Eva Vitija: «Ehrlich gesagt, würde es mir wirklich schwerfallen, über gewisse Themen zu sprechen, wenn ich nicht wüsste, es muss sein, es ist ein Teil des Films.»

«Ich wollte nie einen Film über meinen Vater machen. Und ich hatte, obwohl ich Drehbuchautorin war, eine regelrechte Abneigung gegen Kameras. Denn seit der Sekunde meiner Geburt hatte mein Vater jeden Schritt meines Lebens mit seiner Kamera verfolgt. Mein Vater filmte nicht nur mich und unser Familienleben ausführlich. Er dokumentierte immer obsessiver auch seine «Vergangenheit», so nannte er tatsächlich auch die neunzehn Bundesordner umfassende Dokumentation über sein Leben, die er mir überlassen würde. Vielleicht würde ich eines Tages einen Film daraus machen. Nie im Leben, dachte ich mir. Erst als mein Vater gestorben war, wurde es mir plötzlich ein Bedürfnis, wirklich etwas über ihn zu erzählen. Nämlich meine Geschichte mit ihm. Ich nenne es die Gegenwart.

Ich wollte unbedingt verstehen, was meinen Vater antrieb, sich und unsere Familie so obsessiv zu dokumentieren und damit auch immer ein Stück weit zu inszenieren. Ich habe mich durch sein riesiges Archiv an Filmen gewühlt; vermutlich auch, um den Tod des geliebten Vaters ein klein wenig ungeschehen zu machen. Andererseits war es mir erst jetzt möglich, die Bilder zu hinterfragen, die er von unserer Familie gemacht hatte. Zum ersten Mal schaffte ich es, hinter das Bild zu schauen, das ich selber von unserer Familie hatte. Das Bild einer restlos gelungenen Familie. Lustig, bunt und glücklich.

Ich bin aufgewachsen in der Schweiz der 70er-Jahre, in einer aufgeklärten 68er-Familie, in der über alles gesprochen werden konnte, dachte ich. Bis ich merkte, dass es Tabus gab, die nicht ins "offizielle Bild" der glücklichen Familie passten. Und diese Tabus unterscheiden sich wohl nicht von denjenigen anderer Familien: der Tod eines Sohnes, das Scheitern einer Ehe und den damit verbundenen Gefühlen von Verlust, Trauer und das Gefühl, versagt zu haben.»

Der private Joschy, wie ihn Mitglieder der Familie schildern

 

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Joschy Scheidegger: «Natürlich möchte man das Glück festhalten. Aus diesem Grund habe ich euch wohl so oft gefilmt. Bis es euch zu viel wurde.»

Joschy Scheidegger wurde 1929 in Zürich geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Mit 22 gründete der vielversprechende Bühnen- und Filmschauspieler eine Familie. Die Scheidung von der ersten Frau war traumatisch, aber befreiend. Einer der Söhne aus dieser Ehe erkrankte an Schizophrenie und sprang später aus dem Fenster einer psychiatrischen Klinik. Mit 41 verliebte sich Joschy Scheidegger in seine Schauspielschülerin Claudia Freud. Sie heirateten und bekamen Eva und Kaspar.Einige Jahre später folgte die zweite Scheidung. Er selbst hatte immer Freundinnen, mit 64 und mit 77 nochmals zwei grosse Liebesgeschichten mit wesentlich jüngeren Frauen. Doch neben seiner Lebenslust nahmen depressive Episoden zu. Anfang 2012 starb er überraschend.

Das Leben ein Film!

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Claudia Freud: «Am Anfang fand ich es einen grossen kreativen Akt von ihm, der Versuch einer Selbstheilung.»

Für Calderón de la Barca ist «das Leben ein Traum», William Shakespeare empfiehlt, sich eine Rolle zu suchen, wenn das «Leben ein Theater» ist, und für einige moderne Hirnforscher ist «das Leben eine Illusion». Am Schluss des Films «Das Leben drehen – Wie mein Vater versuchte, das Glück festzuhalten» von Eva Vitija wage ich zu behaupten, dass «das Leben ein Film» ist.

Die Regisseurin nahm das Filmmaterial ihres Vaters, das sie einst verschmäht hatte, an sich und breitete es in einer Mischung aus Hass und Liebe vor sich aus, setzt sich damit auseinander und profitierte von den Sichtweisen von sechs Menschen seines Umfelds: Joschys zweite Frau Claudia Freud, deren Sohn Kaspar, Dominique aus erster Ehe, dem verstorbenen Bruder und, stellvertretend für seine zahlreichen Geliebten, Cornelia Bernoulli und Antoinette Poli. Und ihre eigene Sicht. Sieben Perspektiven, das Leben von Joschy zu hinterfragen und zu verstehen. Entstanden ist dabei ein reiches, hier verschwommenes, dort klares, oft widersprüchliches, stets jedoch Anteil nehmendes Gesamtbild. – Dieses wird, so funktioniert Filmrezeption, von uns Zuschauenden von weiteren Standpunkten nochmals umgedeutet.

Wenn wir uns von aussen dem Film nähernd, macht er Aussagen über die heutige Mediengesellschaft: die Art der Kommunikation via Facebook, die individuelle Omnipräsenz mittels Selfies usw. Dorthin zielt wohl auch Vitijas Hinweis auf den Film «The Truman Show» von Peter Weir über die «Welt als Illusion». Jetzt nähern wir uns dem Protagonisten, suchen Antworten auf die Frage: Warum ist Joschy so, wie er ist?

Will Joschy Scheidegger seine Kreativität, die ihn beim Radio, Fernsehen und Film zu immer Neuem antreibt, auch in der Familie ausleben? Wie weit ist der Aktionismus seiner Tagebücher und Reiseberichte Ausdruck eines intensiv gelebten Lebens oder Ausdruck einer narzisstischen Selbstschau? Verdrängt er in seinem öffentlichen Schaffen andere Teile seiner privaten Persönlichkeit? Ist es bei ihm das typische 68er-Hinterfragen der damals nicht hinterfragten Gesellschaft? Ist es das Ausprobieren dessen, was im Leben auch noch möglich wäre, wie es damals in Kommunen postuliert wurde? Hat er entdeckt, dass er auch im privaten Leben mehrere Rollen spielen könnte? Stehen seine Filme für seine Suche nach Anerkennung? Ist es das alte Thema von Nähe und Distanz, das gerade damals intensiv diskutiert wurde, das sein Leben bestimmte? Ersetzen die Medien in seinem Leben den persönlichen Umgang mit den Nächsten? Ist sein Festhalten der glücklichen Tage vielleicht eine Antwort auf die Schuldgefühle über seine nicht geglückten Beziehungen? Oder ist es, vor allem gegen Ende, ein Filmen gegen den Tod? Zu weiteren Fragen bietet der Film weitere Antworten.

Der abwechslungsreiche und unterhaltsame, berührende und aufwühlende Film entscheidet sich nicht für die eine oder andere Antwort, er lässt viele gelten. «Nicht dich festhalten» hat Joschy Scheidegger seinen Film für Eva betitelt. «Nicht dich festhalten» scheint mir auch das Credo des Filmes seiner Tochter zu sein.

Regie: Eva Vitija, Produktion: 2015, Länge: 77 min, Verleih: Filmcoopi