De son vivant
Der krebskranke Benjamin
Wer schon einen Menschen beim Sterben begleitet hat, erkennt leicht die grossen Qualitäten des Melodramas «De son vivant» (Zu seinen Lebzeiten). Wer es noch nie erlebt hat, wird im Film erfahren, welche Tiefe und Grösse im Sterben liegt.
Benoît Magimel, der den krebskranken Sohn Benjamin spielt, Catherine Deneuve, die dessen Mutter Crystal, der Onkologe und Laiendarsteller Dr. Gabriel Sara, der Dr. Eddé und Cécile de France, die seine Assistentin Eugénie spielt: Sie alle leisten ihren bedeutenden Beitrag, dass wir den Film von Emmanuelle Bercot in seinem Reichtum und seiner Schönheit erleben.
Ein Zufall, der keiner war
Auf die Frage, wie es zu diesem Film gekommen war, antwortete die Regisseurin: «Am Anfang steht ein Zufall. Ich wollte schon lange ein Melodrama machen, wieder etwas für Deneuve und Magimel schreiben und hatte die Idee für einen Film über eine Mutter, die ihren Sohn verliert. Ehrlich gesagt, wusste ich nicht viel mehr, ausser dass man, wenn man bis vierzig nicht bei einem Unfall stirbt, dann wahrscheinlich an Krebs. Also wollte ich auch dieses Thema bearbeiten.
Dann passierte ein Zufall, der jedoch offensichtlich keiner war: «Dr. Sara, der im Film den Onkologen spielt, besuchte eine Vorführung meines Films «La tête haute» in New York. Danach stand er in der Schlange, um mit mir zu sprechen und mir zu sagen, dass das, was er im Film gesehen und ich anschliessend im Gespräch ausgeführt hatte, ihn vermuten lasse, dass ich mich auch für die Arbeit interessieren könnte, die er in den, wie er es nannte, Krebs-Schützengräben leistet. Er lud mich zu einigen Treffen ein, um darüber zu sprechen. Dieser Mann ist so nett, intelligent und warmherzig, dass ich von seinem Vorschlag sehr angetan war. Vor allem sah ich einen Bezug zu meiner Idee für ein Melodrama. Nachdem ich eine Woche bei ihm verbracht hatte, war mir klar, dass ich die beiden Welten zusammenbringen kann: die Arbeit dieses Arztes, die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn verliert und dessen Weg in den Tod. Ich verbrachte unzählige Stunden mit Erzählungen, Diskussionen und Treffen mit ehemaligen Patienten, mit seiner Assistentin, dem Musiktherapeuten des Krankenhauses, den Pflegenden und bekam das Privileg, bei dieser etwas surrealen Szene dabei sein zu können, die wir auch im Film sehen: Tangotänzer in seiner Krebsstation. Als ich das sah, war ich sicher, der Film muss gedreht werden!»
Mutter Crystal mit Sohn Benjamin
Pflegerinnen und Pfleger – Schauspielschülerinnen und Schauspielschüler
Bei dem umfangreichen Personal im Spital fragt man sich spontan, wer ist Schauspieler, wer Pflegeperson? Die 1967 in Paris geborene Regisseurin Emmanuelle Bercot teilt ihre Besetzung normalerweise auf: eine Hälfte Schauspieler, die andere Laiendarsteller. In «De son vivant» sind «fast alle Rollen mit Mitarbeitenden des Krankenhauses besetzt. Das war wichtig, denn in den Gesten, der Präsenz und der Art, wie sie sich durch die Flure bewegen, spürt man bei Schauspielern oft, dass etwas nicht stimmt. Deshalb war mein Wunsch, echte Pflegende zu engagieren. Natürlich hatte ich Dr. Sara dabei, der alles aus medizinischer Sicht überprüfte. Es war eine grosse Hilfe und ein grosses Glück, diese realen Personen am Set zu haben, die sicherstellen, dass ihr tägliches Leben in der Fiktion wahrhaftig dargestellt wird. Ihre Freude am Projekt und ihr Engagement war eindrücklich. Sie ganz in ihrem Element zu sehen, zusammen mit Dr. Sara, der selbst einer von ihnen ist,
Firefox darf diese eingebettete Seite nicht öffnen war für mich eine Quelle grosser Freude.»
Wie einen dramaturgischen Gegenpol zum Pflegepersonal erweisen sich die Schauspielschülerinnen und Schauspielschüler, die Benjamin zwischen den Spitalaufenthalten engagiert auf ihren Beruf vorbereitete. Ich muss gestehen, dass ich die Kunst des Schauspielens noch nie so emotional und intellektuell intensiv wahrgenommen habe wie bei der Arbeit in diesem Film: Wie tief im Innern das Spiel entsteht und sich ausdehnt, bis es in den Seelen der Schauenden und Hörenden ankommt, für Augenblicke die Seele der Welt abbildet und Katharsis schafft! Wenn Benjamin seine Studentinnen und Studenten einen letzten Kuss vor dem Sterben spielen lässt, nimmt das den letzten Kuss, den er von Eugénie im Spital erhalten wird, symbolisch vorweg. «Benjamin versucht, seine Emotionen, seinen Zustand auszutesten. Es ist wie eine Vorbereitung auf das, was er durchmachen muss. Er möchte sehen, wie andere es darstellen und dann den Zustand mit seinen Augen sehen und analysieren, bevor er ihn durchleben muss», meint die Schauspielerin, Drehbuchautor und Regisseurin Emmanuel Bercot dazu.
Dr. Eddé mit dem Kranken
Den Schreibtisch des Lebens räumen
Im Zentrum steht, so kann man mit Blick auf Deneuve den Plot auch als Abnabelung einer Mutter vom Sohn lesen und verstehen. Die Kinder sollten nicht vor den Eltern gehen, sagt man. Eltern sterben normalerweise ja auch vor ihren Kindern. Doch wenn die Reihenfolge geändert wird, sind das Unverständnis, der Schmerz und die Hilflosigkeit umso grösser. Dies durchleben Crystal und Benjamin in vielen kleinen Episoden. Und aus Erfahrung wissen wir, dass das Sterben meist auch ein Ereignis ist, das ganze Familien, Verwandtschaften oder Freundschaften betrifft und durcheinander bringt. Für den von Benjamin nie anerkannten Sohn Leandre beginnt mit der Nachricht ebenfalls eine schwierige Zeit. Denn weder Benjamin noch Crystal hatten je Kontakt mit ihm und seiner Mutter, mit der in Amerika lebt.
Bei seinen Begegnungen mit Benjamin spricht der Arzt und väterliche Berater mehrmals das Aufräumen des Schreibtisches seines Lebens an, was die Regisseurin zum passenden Zeitpunkt ergänzt, denn «als Benjamin seinen Anwalt sieht, hat er den Schreibtisch seines Lebens bereits aufgeräumt. Was konnte er Schöneres tun, als den Sohn anzuerkennen und ihm möglicherweise die wenigen Besitztümer zu vermachen, die er hat. Es wird fast seine letzte Geste, die Krönung seines Lebens. Während Crystal, als sie vor Benjamins Klasse spricht, noch die Augen vor der Wahrheit verschliesst, dass sie beim Verlesen seines Briefes eine Art Testament ihres Sohnes vorträgt, gleichzeitig aber sagt, dass er, wenn es ihm besser gehe, zurückkommen werde. In beiden Szenen, die parallel verlaufen, geht es um das gleiche Phänomen: die Übergabe.» Und diese beschreibt wohl auch ein Kernwort des ganzen Films, das über Mutter und Sohn hinaus jedes Abschiednehmen meint.
Assistentin Eugénie
Verzeih mir. Ich verzeihe dir. Ich liebe dich. Danke. Auf Wiedersehen.
Die fünf Aussagen, die Dr. Eddé dem kranken Benjamin mitgibt, um sich mit ihnen von seinen Angehörigen zu verabschieden, heissen: Verzeih mir. Ich verzeihe dir. Ich liebe dich. Danke. Auf Wiedersehen. (Reihenfolge frei wählbar.)
Beeindruckend an diesem Film ist für mich, dass solche schwerwiegende Sätze, wie andere, alltägliche, nebensächliche daherkomme, aber gerade deshalb so glaubhaft sind. Und es sind Szenen, die anfänglich verunsichern, wie jenes leidenschaftliche Küssen zwischen Benjamin und Eugénie und ihre weiteren Zärtlichkeiten. Oder jene seltsame Einstellung, wenn der verstorbene Benjamin wie ein Auferstandener nochmals für einige Sekunden im Raum über dem Bett schwebt. Oder jene Momente, in denen die Assistentin Eugénie, die kurz vor dem Sterben für wenige Augenblicke erscheint und sich dann in Licht auflöst. Solche Momente lassen uns staunen und schweigen.
Für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Film und mit seinen Themen findet sich im Anhang ein 8-seitiges-PDF:
Interviews mit Emmanuelle Bercot (Regisseurin), Benoît Magimel (Benjamin), Catherine Deneuve (Crystal), Dr. Gabriel Sara (Dr. Eddé) und Cécile de France (Assistentin Eugénie)