Deux jours, une nuit

Existenziell betroffen und treffend: «Deux jours, une nuit», der neunte Film der Gebrüder Dardenne, diesmal mit Marion Cotillard in der Hauptrolle, ist sozial und universell.
Deux jours, une nuit

Titelbild: eine echte Arbeiterin, vorgelebt von einem grossen Filmstar

Wenn jemand den Titel «Sozialarbeiter des Kinos» verdient, dann wohl am ehesten die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Sie wurden 1951 und 1954 in Belgien geboren. Jean-Pierre studierte Schauspiel am Institut dʼArt Dramatique in Brüssel, Luc Philosophie an der katholischen Universität in Leuven. Nachdem sie gemeinsam einige Dokumentarfilme gedreht hatten, debütierten sie 1986 mit ihrem ersten Spielfilm «Falsch», dem 1992 «Je pense à vous» folgte.

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Manu (Fabrizio Rongione) und Sandra (Marion Cotillard)

Das Produzenten-, Drehbuch- und Regiepaar Jean-Pierre und Luc Dardenne
Einen entscheidenden Wendepunkt der Karriere erlebten die beiden Regisseure 1996 mit ihrem dritten Spielfilm, «La promesse», der auf dem Brüsseler Filmfestival den Hauptpreis als bester Film erhielt. Der endgültige Durchbruch gelang ihnen drei Jahre später mit «Rosetta», für den sie und die junge Hauptdarstellerin Emilie Dequenne in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurden. Darauf folgten die mehrfach preisgekrönten Filme «Le fils», «Le silence de Lorne» und «Lʼenfant». «Le gamin au vélo», die achte Regiearbeit der Brüder, wurde mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet. Mittlerweile sind ihre Werke bei den internationalen Festivals nicht mehr wegzudenken. So erlebte «Deux jours, une nuit» seine Premiere 2014 in Cannes. Eine kurze Würdigung des Gesamtwerkes von Jean-Pierre und Luc Dardenne habe ich vor Jahren publiziert.

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Sandra bei einem ihrer Arbeitskollegen

Spannender als ein Krimi …
Die Ehefrau und Mutter Sandra Bya hat wegen ihrer Depression lange bei der Arbeit gefehlt. Kurz nach ihrer Rückkehr erfährt sie, dass sie ihren Job verlieren soll. Der Chef der Firma stellt ihre 16 Kollegen und Kolleginnen vor die Wahl: Entweder gibt es für alle je einen 1000 Euro-Bonus, oder Sandra darf die Stelle behalten. Bei einer ersten Abstimmung haben sich die meisten für das Geld und gegen Sandra entschieden. Doch als sie mit einer Wiederholung der Abstimmung eine letzte Chance bekommt, bleibt der zwischen Kampfwille und Resignation schwankenden Sandra noch ein Wochenende, also zwei Tage und eine Nacht, die anderen auf ihre Seite zu ziehen. 48 Stunden, in denen für sie alles auf dem Spiel steht.

Als Einführung in das Werk der beiden Künstler hier ein Statement der Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard, die im Film Sandra verkörpert. Auf die Frage, wie sie das Kino der Brüder Dardenne beschreiben würde, antwortet sie: «In jedem ihrer Filme richten sie den Blick auf die Realität unserer Gesellschaft. Zugleich denken sie sich aber jedes Mal ein neues filmisches Abenteuer aus. Sie sind wahre Autorenfilmer, in höherem Masse das Autorenkino zu verkörpern, als Luc und Jean-Pierre dies tun, ist schlicht unmöglich! Dennoch gelingt es ihnen, sich allen Kategorien zu entziehen. Ihre Filme sind absolut universell.»

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Vor der zweiten Abstimmung

… zutreffender als eine Abhandlung
Wenn ein Regisseur bei seinen Filmen den «Blick auf die Realität unserer Gesellschaft» richtet, dann wird es spannend wie ein Krimi, denn ein solcher Ansatz trifft uns ins Herz. Sandra ist während 96 Minuten Film permanent im Fokus, von nah oder fern, handelnd oder erleidend, im In oder im Off. Für diese Präsenz der Hauptdarstellerin im Gespräch mit ihren Gesprächspartnern sind neben der Regie vor allem Alain Marcoen an der Kamera und Marie-Hélène Dozo mit der Montage verantwortlich. Der ganze Film funktioniert, so wage ich zu sagen, «intravenös». Ich kann mich an keinen Film erinnern, bei dem ich so intensiv in die Seele einer Figur eingetaucht bin wie hier in die Person von Sandra und durch sie bei zwei Dutzend Menschen der Belegschaft Eingang gefunden habe. Über jede dieser Begegnungen könnte man mühelos ein Buch schreiben, so viel gibt es darin zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu denken, wahrzunehmen. Um dies dem Publikum zu überlassen, verzichte ich auf weitere Inhaltsangaben. Dass dieses grosse Filmerlebnis beim Entstehungsprozess ein filmisches Abenteuer war, wie es Cotillard bezeichnet, versteht sich von selbst und ist das pure Gegenteil der Action-Storys des Mainstream-Kinos.

Autorenfilme der Sonderklasse haben die Dardenne-Brüder geschaffen, eine Gattung, die im heutigen Filmgewerbe kaum mehr möglich ist, es sei denn, die Regisseure übernehmen auch die Produktion, wie die beiden. Doch auch als Autorenfilmer haben sie sich immer weiterer Kategorisierungen entzogen. Gelegentlich wurden sie abschätzig als «Sozialarbeiter-Filmer» bezeichnet, was jedoch nur oberflächlich zutrifft. Ihre Filme sind mehr! Sie schildern Menschen als lebende Wesen im Strudel der sozialen Realität, als Täter, mehr noch als Opfer. «Ich bin eine Null, ein Krüppel, ein Nichts», meint Sandra voll Verzweiflung. «Deux jours, une nuit» wird so zu einer Würdigung der Untüchtigen, meinen die Autoren.

Und dies schildern Jean-Pierre und Luc Dardenne mit höchster Professionalität und Empathie, verkörpern Marion Cotillard als Sandra, Fabrizio Rongione als Manu und die übrigen Darstellerinnen und Darsteller aufs Schönste. Und wir erleben während 96 Minuten eine totale Identifikation. Indem Sandra an den unterschiedlichsten Wohnungstüren klingelt und Gespräche führt, offenbart sie uns die Vielfalt der Probleme der Arbeitenden in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft. In ihre Begegnungen verschmelzen die Filmemacher eindringlich und überzeugend Einzelschicksale zu einem vielschichtigen, präzisen und unerbittlichen Gesamtbild des Lebens in einer Kleinstadt, wie es sich europaweit wohl ähnlich zeigt. «Deux jours, une nuit» ist packend, spannend und moralisch: ein Meisterwerk.

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Jean-Pierre und Luc Dardenne. Foto: sennhausersfilmblog.ch

INTERVIEW EINS: MIT JEAN-PIERRE UND LUC DARDENNE

 

Welchen Umständen verdankt sich das Filmprojekt DEUX JOURS UNE NUIT?

Luc Dardenne: Der Hintergrund ist natürlich die soziale und ökonomische Krise, in der sich Europa gegenwärtig befindet. Wir hatten schon seit mehreren Jahren an einen Film gedacht, in dem sich ein Mensch damit konfrontiert sieht, dass er mit Zustimmung der Mehrheit seiner Arbeitskollegen entlassen werden soll. So richtig nahm das Projekt aber erst Gestalt an, als wir eine klarere Vorstellung von den beiden Hauptfiguren hatten, dem Ehepaar Sandra und Manu, die trotz widriger Umstände zueinanderhalten.

Jean-Pierre Dardenne: Wir wollten eine Figur darstellen, die ausgeschlossen wird, weil man sie für schwach und nicht tüchtig genug hält. Der Film soll ein Loblied auf diese "Untüchtige" sein, die durch den Kampf, den sie Seite an Seite mit ihrem Mann führt, neue Kraft und neuen Mut schöpft.

 

Sandras Kollegen haben für einen Personalabbau und folglich für ihre Entlassung gestimmt, um sich so die Auszahlung einer Prämie zu sichern. Sind Ihnen in der Arbeitswelt des Öfteren solche Fälle zu Ohren gekommen?

Jean-Pierre Dardenne: Ja, mehrmals, auch wenn die Umstände natürlich nie exakt die gleichen waren. In der Arbeitswelt stösst man täglich, sei es in Belgien oder anderswo, auf zahlreiche Fälle, die deutlich machen, dass Leistungsfähigkeit zu einer wahren Obsession geworden ist. Die Beschäftigten werden dabei häufig in einen brutalen Konkurrenzkampf gezwungen.

 

Manu ermuntert Sandra, ein Wochenende lang all ihre Arbeitskollegen aufzusuchen, um diese dazu zu überreden, ihr Votum zu überdenken und so ihre Wiedereinstellung zu ermöglichen. Er spielt also eine ganz entscheidende Rolle...

Jean-Pierre: Manu verkörpert ein wenig den typischen Gewerkschaftler, gleichzeitig ist er für Sandra aber auch so etwas wie ein "Coach". Es gelingt ihm, sie davon zu überzeugen, dass es immer noch eine Chance gibt und dass sie es durchaus schaffen kann, ihre Kollegen zu einem Meinungsumschwung zu bewegen.

Luc: Sandra sollte keinesfalls als Opfer erscheinen, das die Kollegen, die gegen sie gestimmt haben, anprangert und ihnen die Schuld zuweist: Es geht hier nicht um den Kampf eines armen Mädchens gegen die Bösewichte!

 

Sie fällen keinerlei Urteil über die einzelnen Filmfiguren.

Luc: Die Arbeiter in DEUX JOURS UNE NUIT befinden sich in einer Situation, die durch permanenten Konkurrenzdruck und Rivalität gekennzeichnet ist. Es kann daher nicht die Rede davon sein, dass auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Bösen stünden. Es ist überhaupt nicht unsere Art, so die Welt zu sehen.

Jean-Pierre: Ein Film ist schliesslich kein Gericht! Sandras Kollegen haben alle ihre guten Gründe, um mit Ja oder mit Nein zu stimmen. Denn eines ist sicher: Die Prämie stellt für keinen von ihnen einen Luxus dar, auf den sie leicht verzichten könnten. Sie brauchen alle dieses Geld, sei es um ihre Miete oder sonstige Rechnungen bezahlen zu können. Sandra versteht das umso besser, da sie ja selbst mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.

 

Mit ihrem Mann und ihren Kindern kann sich Sandra immerhin auf eine Familie stützen, die zusammenhält. Das war nicht immer so in Ihren Filmen...

Luc: Gerade aus ihrer Ehe schöpft Sandra all ihren Mut. Manu liebt seine Frau von ganzem Herzen. Er kämpft gegen ihre Depressionen an und hilft ihr dabei, ihre Angst zu überwinden. Am Anfang des Films glaubt Manu ja mehr an Sandra als diese an

sich selbst.

Jean-Pierre: Selbst ihre Kinder unterstützen sie in ihrem Kampf. So helfen sie ihren Eltern etwa dabei, die Adressen der Kollegen herauszubekommen...

 

Warum kommt es den Arbeitskollegen nicht in den Sinn, in Streik zu treten oder sich auf andere Weise dem erpresserischen Deal zu widersetzen, der ihnen von ihrem Chef angeboten wurde?

Jean-Pierre: Wir haben uns ganz bewusst für ein kleines Unternehmen entschieden, in dem die Zahl der Angestellten nicht ausreicht, um sich gewerkschaftlich zu organisieren. Wäre es uns darum gegangen, die Geschichte eines Kampfs gegen einen klar definierten Feind zu erzählen, so wäre DEUX JOURS UNE NUIT ein ganz anderer Film geworden. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass das Ausbleiben einer kollektiven Reaktion, eines offenen Widerstands gegen die perfide Abstimmungsalternative auch den generellen Mangel an Solidarität in unserer Zeit offenbart.

 

Wie lange haben Sie am Drehbuch gearbeitet, um es letztlich zu diesem Ergebnis zu führen?

Jean-Pierre: Wir haben schon seit rund zehn Jahren immer wieder über dieses Projekt geredet, hatten also genug Zeit, um uns darauf vorzubereiten.

Luc: Das Schreiben als solches ging recht flott vonstatten. Im Oktober 2012 fingen wir damit an, uns mit der Gliederung des Skripts zu befassen, und im März 2013 war es bereits fertig. Wir wollten, dass sich die ganze Handlung innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne abspielt, wie es ja auch der Titel verlauten lässt.

Jean-Pierre: Die Idee war, dass die durch einen so engen zeitlichen Rahmen bedingte Eile den Rhythmus des Films bestimmen sollte.

 

Nach Cécile de France in LE GAMIN AU VÉLO ist es nun Marion Cotillard, die in der Hauptrolle brilliert...

Luc: Wir lernten Marion Cotillard kennen, als wir DE ROUILLE ET DʼOS von Jacques Audiard koproduzierten, der teilweise in Belgien gedreht wurde. Schon bei der ersten Begegnung – sie verliess gerade den Aufzug und trug ihr Baby auf den Armen –waren wir ihr ganz und gar verfallen. Als wir danach im Auto nach Lüttich zurückfuhren, taten wir nichts anderes als über sie zu reden, ihr Gesicht, ihren Blick... Jean-Pierre: Eine so bekannte Darstellerin zu engagieren bedeutete für uns natürlich eine zusätzliche Herausforderung. Marion Cotillard erwies sich jedoch als geschickt genug, um sich für diesen Film einen neuen Körper und ein neues Gesicht zu erfinden.

Luc: Es war ihr völlig fremd, ihre Arbeit als Schauspielerin in den Vordergrund zu stellen. Nichts von dem, was sie vor der Kamera gezeigt hat, trug die Züge einer Selbstinszenierung oder einer Demonstration ihres Könnens. Wir arbeiteten in einem Klima wechselseitigen Vertrauens zusammen, das es uns leicht machte, alle Möglichkeiten auszuloten.

 

Für die Rolle des Manu haben Sie sich wieder für Fabrizio Rongione entschieden, der bereits in mehreren Ihrer früheren Filme zu sehen war.

Jean-Pierre: Ja, sowohl in ROSETTA als auch in LʼENFANT, LE SILENCE DE LORNA und zuletzt in LE GAMIN AU VÉLO. Für die Rolle des Manu haben wir sofort an ihn gedacht. Es war grossartig, ihn wieder dabei zu haben. Luc: Gerade in DEUX JOURS UNE NUIT ist seine Rolle überaus wichtig, da der Film ja auch die Geschichte von Manu erzählt. Fabrizio hat es geschafft, diese Figur mit der Lebenskraft und dem Enthusiasmus auszustatten, den es brauchte, um Sandra Halt zu geben.

 

Auch der für Sie offenbar unverzichtbare Olivier Gourmet ist wieder mit von der Partie...

Luc: Ja, von der Figur, die er verkörpert, ist zwar den ganzen Film lang die Rede, zu Gesicht bekommt man ihn jedoch nie. Erst am Ende taucht er auf – so plötzlich und unerwartet wie ein Wildschwein in den Ardennen!

 

Wie haben Sie die einzelnen Darsteller auf ihre Rollen vorbereitet?

Jean-Pierre: Einen Monat lang haben wir mit ihnen Probeaufnahmen gemacht. Bereits zuvor hatten wir allerdings zwei Monate lang den Dreh vorbereitet, indem wir an den verschiedenen Schauplätzen des Films Aufnahmen mit einer Videokamera machten. Luc: Diese Phase des Probens ist für uns unerlässlich, bevor wir mit dem eigentlichen Dreh beginnen: zum einen, um in den Rhythmus hineinzufinden, und zum anderen, um jenes Klima vollkommenen Vertrauens herbeizuführen, das die Darsteller brauchen, um möglichst natürlich vor der Kamera zu agieren.

Jean-Pierre: Wir haben chronologisch gedreht, was für uns ebenso hilfreich war wie für die Darsteller. Die Wege, die Sandra innerhalb von zwei Tagen und einer Nacht

zurücklegt, gehen ja mit einer starken Entwicklung einher, und dies sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht. Folglich war es für Marion, aber auch für Fabrizio und für die anderen Darsteller, ganz wesentlich, diesem Reifungsprozess chronologisch folgen zu können

 

INTERVIEW ZWEI: MIT MARION COTILLARD

Wie verlief Ihre erste Begegnung mit den Dardenne-Brüdern?
Wir sind uns erstmals in Belgien über den Weg gelaufen, bei den Dreharbeiten zu DE ROUILLE ET DʼOS von Jacques Audiard. Das war aber nur eine kurze Begegnung, zwischen zwei Aufzügen. Ich war ziemlich überwältigt, denn ich hatte die beiden schon immer sehr bewundert ... Einige Monate nach der Premiere von DE ROUILLE ET DʼOS rief mich dann mein Agent an, um mir mitzuteilen, dass Luc und Jean-Pierre Dardenne mir eine Hauptrolle in einem Film anbieten wollten. Ich konnte das kaum glauben, denn für mich war die blosse Vorstellung, einmal unter ihrer Regie arbeiten zu können, als würde ich Zutritt zu einer unerreichbaren Sphäre erhalten.

Warum?
Im Verlauf meiner Karriere als Schauspielerin hatten sich mir zwar schon des Öfteren Perspektiven aufgetan, von denen ich kaum zu träumen gewagt hätte, dass aber die Dardenne-Brüder einmal auf mich zukommen würden, das hätte ich mir niemals träumen lassen! Es entspricht ja keineswegs ihrer Gewohnheit, Darsteller zu engagieren, die zuvor bereits in so vielen unterschiedlichen Filmgenres unterwegs waren. Zwar hatte bereits Cécile de France in einem ihrer Filme mitgewirkt, nämlich in LE GAMIN AU VÉLO. Doch bei ihr schien das ja auch naheliegender zu sein, da sie ebenfalls Belgierin ist. Für mich kam es also wirklich sehr überraschend, dass mich die Dardenne-Brüder kontaktierten – und gleichzeitig war ich überglücklich.

Wie würden Sie das Kino der Dardennes beschreiben?
In jedem Film richten sie den Blick auf die Realität unserer Gesellschaft. Zugleich denken sie sich aber jedes Mal ein neues filmisches Abenteuer aus. Sie sind wahre Autorenfilmer. In höherem Masse das Autorenkino zu verkörpern, als Luc und Jean-Pierre dies tun, ist schlicht unmöglich! Dennoch gelingt es ihnen, sich allen Kategorien zu entziehen. Ihre Filme sind absolut universell.

Was war Ihre erste Reaktion, als die Dardenne-Brüder Ihnen die Rolle der Sandra anboten?
Bei unserem ersten Treffen war ich total aufgeregt. Ich habe zwar alles getan, um nicht meine Fassung zu verlieren, doch irgendwie musste das einfach raus aus mir. Ich war innerlich so aufgewühlt bei dem Gedanken, dass sie mir eine Rolle anboten, dass ich ihnen das erst einmal sagen musste.

Wie haben sie Ihnen das Projekt DEUX JOURS UNE NUIT schmackhaft gemacht?
Sie erklärten mir in wenigen Worten, worum es in dem Film gehen würde. Eigentlich wurde mir Sandras Geschichte aber erst klar, als ich das Drehbuch las. Ich begriff, was für eine Heldin des wirklichen Lebens sie ist – und was für eine grossartige Herausforderung es für mich werden würde, diese Frau zu spielen, die jeden ihrer Arbeitskollegen einzeln aufsucht, um ihn dazu zu bewegen, seine Entscheidung zu überdenken. Bei den Proben ging es vor allem darum, Nuancen wie beispielsweise Sandras häufige Stimmungsschwankungen herauszuarbeiten.

Wie würden Sie Sandra charakterisieren?
Sie ist eine ganz normale Frau, eine Arbeiterin, die weiss, dass alles im Leben seinen Preis hat und dass es da keinen Ausweg gibt. Sie versteht die anderen, die lieber ihre Tausend-Euro-Prämie einstecken, wollen als für Sandras Weiterbeschäftigung in der Firma zu stimmen. Niemand weiss, wie sie sich selbst an ihrer Stelle verhalten hätte. Der Film fällt nirgends ein Urteil über eine der Figuren, und gerade darin liegt seine Stärke.

Sie leidet auch unter Depressionen ...
Ja, und das geht sogar so weit, dass sie in einer Szene sagt: "Ich bin eine Null". Dieses Gefühl der Nutzlosigkeit, das viele Menschen überkommt, die nicht so recht wissen, wie sie mit ihrer Arbeit bzw. dem Fehlen einer Arbeit zurechtkommen sollen, hat sich ganz tief in ihr festgesetzt. Einige Monate vor Drehbeginn war ich selbst ziemlich erschüttert über diverse Artikel und Reportagen, die sich mit dem Thema Selbstmord wegen Problemen am Arbeitsplatz befassten. Da ging es um Leute, die sich lieber umbringen, als dieses Gefühl der Nutzlosigkeit noch länger zu ertragen. Für mich war der Film auch eine Art Echo auf diese schockierenden Berichte.

Wie spielt sich die Arbeit mit den Dardenne-Brüdern konkret ab?
Wir hatten einen Monat lang geprobt, das war eine sehr wichtige Phase. Es ging dabei darum, Standortbestimmungen vorzunehmen, das Temperament der einzelnen Figuren festzulegen und den Rhythmus verschiedener Szenen herauszuarbeiten. Diese akribische Vorbereitung war umso wichtiger, als die Dardenne-Brüder viel mit Plansequenzen arbeiten. Was mich selbst betraf, so fürchtete ich mich am meisten davor, meine sehr französische Sprechweise ablegen zu müssen ... – natürlich ohne dabei den belgischen Akzent auf die Spitze zu treiben, denn das hätte dann doch etwas aufgesetzt gewirkt. Die Proben waren für mich so etwas wie ein Eintauchen in die belgische Wesensart, das es mir ermöglichte, mich in dieser Umgebung wohlzufühlen.

Der Film vermeidet konsequent jede Rührseligkeit und platte Anschuldigung ...
Die Dardenne-Brüder sind Meister darin, den Blick auf das Wesentliche zu lenken. Bei ihnen darf man nicht versuchen, sein Spiel in den Dienst bestimmter Botschaften zu stellen. Vielmehr geht es ihnen darum, möglichst wahrhaftig zu sein. Auch mir kam diese Einstellung sehr entgegen, denn selbst wenn sich meine Rollen für grosse Theatralik eignen, versuche ich doch immer, sie so zu interpretieren, dass man die schauspielerische Leistung gar nicht sieht, sondern sich mit der jeweiligen Filmfigur und ihren Gefühlen identifizieren kann. Und wenn es einem liegt, auf dieser Basis zu arbeiten, dann kann einem gar nichts Besseres passieren, als mit den Dardenne-Brüdern zusammenzuarbeiten.

Wie ist die Schauspielerführung der Dardenne-Brüder am Set?
Da sie ja schon im Verlauf der Proben sehr viel vorbereitet haben, konzentrieren sich Luc und Jean-Pierre während des Drehs vor allem auf das, was ihnen die Darsteller anbieten. Und da sind ihre Ansprüche derart hoch, wie man es selten erlebt. Sie sind dermassen detailversessen, dass sie manche Szenen zigfach wiederholen lassen. Aber das ist eben der Preis, den man für die Wahrhaftigkeit und die Intensität ihres Kinos bezahlen muss. Selbst wenn sie mich 250 Mal gebeten hätten, eine Szene nochmals zu drehen, wäre ich dazu bereit gewesen. Nie hatte ich das Gefühl, dass es jetzt allmählich reicht, denn noch nie wurde ich so konstruktiv bei meiner Arbeit geführt.

Zusammen mit Fabrizio Rongione bilden Sie ein sehr glaubhaftes Paar ...
Die Proben haben uns da viel geholfen. Bei so einem Film ist es wichtig, sich nicht erst am ersten Drehtag kennenzulernen. Die Proben boten uns die Möglichkeit, uns aufeinander einzulassen. Fabrizio ist ja schon ein alter Hase im Kino der Dardenne-Brüder, schliesslich hat er in den meisten ihrer früheren Filme mitgewirkt. Folglich fiel es ihm leicht, sich ganz natürlich in ihr Universum einzufinden, umso mehr, als er die notwendige Authentizität verkörpert. Mit ihm unter den Augen der beiden Brüder zusammenzuarbeiten, war für mich ein einmaliges Erlebnis.

Die Rolle der Sandra unterscheidet sich erheblich von den Figuren, die sie in letzter Zeit in den USA gespielt haben.
Es war immer mein Traum, so vielfältige und abwechslungsreiche Rollen wie nur möglich spielen zu dürfen, und ich schätze mich überglücklich, auf diese Weise immer wieder Neues für mich zu entdecken. Meine Hoffnungen, mich als junge Darstellerin in möglichst vielen Genres unter der Regie grosser Cineasten zu versuchen, sind bisher vollauf in Erfüllung gegangen.

Wird DEUX JOURS UNE NUIT ein ganz besonderer Film in Ihrer Karriere bleiben?
Ja, ganz bestimmt! Ich habe zwar schon viel Grossartiges erlebt, doch von all meinen Projekten war es dieses, das ich am schönsten fand und das mich innerlich am meisten bewegt hat. Nie zuvor hatte ich den Eindruck gehabt, so einfühlsam von einem Regisseur – ja gleich von zwei Regisseuren – begleitet zu werden. Zwischen uns Dreien herrschte vom ersten bis zum letzten Tag grösste Übereinstimmung. Und als wir die letzte Sequenz gedreht hatten, war ich tieftraurig darüber, dass die Geschichte, zumindest dieser Teil der Geschichte, zu Ende war.

Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Produktionsjahr: 2014
Länge: 96 min
Verleih: Xenixfilm