Die letzte Pointe

Ein Alterswerk: berührend und bedeutend: Gertrud denkt, sie sei dement und möchte abtreten. Doch weder Sterbehelfer noch Familie oder Verehrer spielen wunschgemäss mit. Rolf Lyssy beschert uns mit «Die letzte Pointe» und Monica Gubser in der Hauptrolle heitere und lebenskluge Unterhaltung.
Die letzte Pointe

Monica Gubser, selbst 86-jährig, spielt die 89-jährige Gertrud

Für ihre 89 Lenze ist Gertrud Forster beneidenswert vital und selbstständig. Ihre grösste Angst ist es, dement im Altersheim zu enden. Umso schockierter ist sie, als ein eleganter Engländer bei ihr auftaucht, weil sie ihn auf einer Dating-Plattform für Senioren angeschrieben habe. Da Gertrud sich an nichts dergleichen erinnern kann, möchte sie nur noch eins: ihr möglichst selbstbestimmtes Ende, bevor sie auf der Demenzstation landet. Die Familie hat keine Ahnung von Gertruds finalem Vorhaben. Doch alle, Tochter, Sohn, Schwiegertochter, Enkel und sogar Urenkelin, glauben besser zu wissen, was für ihre Zukunft richtig ist. Und als sich der Sterbehelfer Balz Sommer in Gertruds Lieblingsenkelin Meret verliebt, während der englische Verehrer George ihr weiter den Hof macht, muss sie einmal mehr ganz eigene Wege gehen.

Rolf Lyssy legt uns nach sieben Dokumentar-, sechs Spielfilmen und einem Kurzfilm sein sechzehntes Opus vor. Wie «Die Schweizermacher» aus dem Jahre 1978 landauf landab begeisterten, so wird wohl der heute 81-jährigen Regisseur mit seinem neuen unterhaltsamen, witzigen, wunderbaren und gut beobachteten Altersfilm «Die letzte Pointe» sein Publikum finden. Wie der Film «Die Schweizermacher» seit 39 Jahren immer wieder gespielt und applaudiert wird, weil er immer noch aktuell ist, so wird es wohl dem neuen Film «Die letzte Pointe» ergehen, weil er immer aktuell sein wird.

Pressefoto Die letzte Pointe   Monica Gubser, Stella Mayer, Anikó Donáth, Daniel Bill, Delia Mayer, Peter Jecklin, Suly Röthlisberger, Michael Rutman,Foto von Sava Hlavacek © Vinca Film 
Die erweiterte Dreigenerationenfamilie feiert Gertruds Geburtstag

Einführung von Dominik Bernet und Rolf Lyssy

Nur selten führen uns Filmemacher so charmant und klug in ihren eigenen Film ein, wie hier die beiden Drehbuchautoren: «Aktive Senioren und selbstbestimmtes Sterben sind die beiden Pole, um die die Diskussion um das Altern derzeit kreist. Doch während rüstige Rentner uns allen einen lustvollen Lebensabend verheissen, bleibt die Aussicht auf den letzten Vorhang so unappetitlich wie ein Furz zum Dessert. Obwohl es bei der Sterbegestaltung an Optionen nicht mangelt, und das Thema auch medial sehr wohl bedient wird, spricht man lieber nicht darüber. Und wenn man darüber spricht, dann so allgemein wie möglich. Abtreten ist etwas für die andern. Je diskreter sie dies tun, desto besser. Der eigene Tod ist weiter weg denn je, schliesslich hat sich die Lebenserwartung in den vergangenen 130 Jahren mehr als verdoppelt. Dass er dennoch so unerbittlich insistiert, bleibt letztlich der grösste Skandal.

Von diesem Skandal und unserem Umgang damit handelt «Die letzte Pointe». Es geht nicht primär um Sterbehilfe, sondern um unsere Hilflosigkeit, wenns ums Sterben geht. Diese drückt sich wie gesagt vor allem durch Schweigen aus. Das tiefe Unbehagen und die profunde Ratlosigkeit dem Tod gegenüber lassen uns verstummen. Wir wollen nicht an die eigene Endlichkeit erinnert werden. So ist es auch ein Gebot der Höflichkeit und des Mitgefühls, wenn wir andere nicht daran erinnern. Deshalb hat selbst unsere ansonsten durchaus direkte Protagonistin Gertrud grösste Mühe, ihre Familie mit ihrem finalen Vorhaben zu konfrontieren. Doch einfach wortlos abzutreten, ist noch deutlich ungehobelter, als davon zu sprechen. Wie also stirbt man sozialverträglich, wenn der Tod als asozial empfunden wird?

Weil wir einen Rolf Lyssy-Film, dem Schöpfer des erfolgreichsten Schweizer Spielfilms aller Zeiten, «Die Schweizermacher» vor Augen haben, geben wir die Antwort auf diese Frage in Form einer Komödie. Was nicht bedeutet, dass wir sie nicht ernst nehmen. Im Gegenteil: Wir denken, dass sich der zugrunde liegende Konflikt in dieser Form am besten darstellen lässt. Und zwar als Mischung aus Intrigen- und Situationskomödie. Ersteres, weil die elfjährige Lisa die digitalen Fäden zieht. Letzteres, weil Gertrud sich durch die unerwartete Situation in ihrer grössten Angst bestätigt sieht: dem Verlust ihrer Eigenständigkeit. Denn bisher hatte sie stets alles im Griff, konnte mit jeder Situation selbstständig umgehen. Wie in der Komödie üblich, steht eine menschliche Schwäche im Zentrum: Gertruds ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstbestimmung, das ihre Mitmenschen als Sturheit bezeichnen würden. Ihr beharrliches Schweigen ist das dramaturgische Leitmotiv: Indem sie den dramatischen Konflikt scheut, ermöglicht sie den komischen. Dadurch rückt gleichzeitig auch unser oben beschriebener Umgang mit dem Tod in den Fokus. Gertrud schweigt ja nicht aus Prinzip oder bösem Willen, sondern aus der wohlbegründeten Angst vor der Reaktion ihrer Umwelt. Als Zuschauer wissen wir von Anbeginn von ihrer Suizidabsicht und werden Zeugen ihres wiederholten Scheiterns. Dabei geht es nur vordergründig um die diversen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die Sterbewilligen heute zur Verfügung stehen. Der emotionale Konflikt liegt im klandestinen Umgang mit dem Thema. Da wir von Gertruds Absicht wissen, erhält jede Szene einen Subtext, egal, ob die agierenden Charaktere eingeweiht sind oder nicht. Das Unsagbare schwingt unausgesprochen immer mit.

Diese dramaturgische Entscheidung prägt unsere Geschichte massgeblich. Wir sparen den dramatischen Konflikt um das Sterben in seiner szenischen Darstellung weitgehend aus. Er findet weniger zwischen den Charakteren als in den Köpfen der Zuschauer statt. Die Leichtigkeit, nach der wir uns gemeinsam mit den Protagonisten sehnen, wird so fortlaufend als vordergründig entlarvt. Gerade weil der Schrecken des Todes weitgehend zwischen den Zeilen bleibt, ist «Die letzte Pointe» ein Film über das Sterben – und unseren oft hilflosen Umgang damit. Es ist aber auch eine generationenübergreifende Familiengeschichte, wie sie in vielen Schweizer Haushalten spielen könnte. Die weitgehend unaufgeregte Alltäglichkeit der Situationen ist Programm, deren vermeintliche Harmlosigkeit liefert den nötigen Kontrast zur Schwärze des Themas.»

Pressefoto Die letzte Pointe   Monica Gubser,Foto von Sava Hlavacek © Vinca Film 2 
Aus Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit probt Gertrud ihren Ausstieg

«Ich gehe immer von einem Thema aus, das in der Gesellschaft im Gespräch ist»

Auf die Frage des Journalisten Christian Jungen, «Sie beherrschen die Balance von Tragik und Komik. Wie machen sie das?», antwortet Rolf Lyssy: «Mich interessiert eben die Stelle, wo sich Komödie und Tragödie berühren. Ich gehe immer von einem Thema aus, das in der Gesellschaft im Gespräch ist. 1961 habe ich einen Bericht über das Attentat eines Juden auf den Nazi Gustloff in Davos von 1936 gelesen und gedacht: Das gibt einen Film! Daraus entstand "Konfrontation". Bei "Die Schweizermacher" stand am Anfang das Thema Einbürgerung, bei "Leo Sonnyboy" die Scheinehe. Es war mir immer ein Anliegen, die Zuschauer zu unterhalten und ihnen etwa zum Nachdenken mitzugeben. Schliesslich zahlen sie zwanzig Stutz, um ins Kino zu gehen. Ich betrachte das als moralische Verpflichtung. Da bin ich geprägt von Billy Wilder, der mein Filmvater war und den gleichen Jahrgang hat wie mein Vater.»

Eine Filmkritik, die verdient, hier wiederholt zu werden, stammt von Michael Sennhauser: «"Die Letzte Pointe" schafft mit trügerischer Leichtigkeit den Vitaparcours zwischen Tragik und Familienkomödie, borstiger Altersromanze und jazziger Verspieltheit. Das gelingt, weil der Film nicht wegschaut, sondern Angst und Tod ebenso anerkennt wie Hoffnung und Verliebtheit.» Ein besonderes Juwel in dieser Produktion ist Monica Gubser, die ihre Rolle eindrücklich und brillant spielt. Sie übrigens verbindet diesen Film mit dem letzten Film von Fredi M. Murer, «Liebe und Zufall», und mit «Usfahrt Oerlike», dem letzten Film von Paul Riniker, zwei Altersfilmen, in denen sie ebenfalls tragende Rollen spielt. Nicht nur die Schauspielerinnen und Schauspieler spielen ihre Rollen grossartig. Die Kameraarbeit von Rolfs Sohn Elia, die Musik der Geschwister Baldenweg und der Schnitt von Stefan Kälin runden den schönen Film.

Die in Lyssys obiger Interview-Antwort enthaltene Achtung den Figuren, dem Stoff und dem Publikum gegenüber durchzieht den ganzen Film und sein ganzes Oeuvre. Das heisst, er nimmt das Gegenüber ernst. Es gibt genug Regisseure, die auf dem Buckel eines ernsthaften Themas Witze machen. Lyssy braucht Komik und Humor, um Themen auszuloten. Hier sind es die langsam sich verbreitende Verunsicherung an der eigenen Zurechnungsfähigkeit, der allmähliche Abbau der Kräfte und Fähigkeiten. Im Alter wird dies offensichtlich. Doch im Grunde ist Schwächer-Werden und Schwach-Sein etwas, das alle Menschen in allen Lebensphasen treffen kann. In diesem Sinne ist «Die letzte Pointe» zutiefst eine menschenfreundliche Deutung des Alters und des Lebens. Dafür gebührt Rolf unser Dank.

Regie: Rolf Lyssy, Produktion: 2017, Länge: 99 min, Verleih: Vinca Film