Die Wiesenberger
Sie juizten bei Hochzeiten, Geburtstagen und auch Beerdigungen. Inzwischen steht ihre Welt Kopf. Ihre CDs stürmen die Hitparaden, und der Chor wird mit Anfragen überhäuft. Das Showbusiness lockt, das verführerische Angebot wird zur Zerrreissprobe. Der Film «Die Wiesenberger» von Bernard Weber und Martin Schilt ist ein informatives und liebenswürdiges Dokument über juitzende Bergler, die zwischen Brauchtum und Showbusiness authentisch zu bleiben versuchen. Während zweier Jahre haben die Filmer den märchenhaften Aufstieg der Wiesenberger Jodler vom Säli des Restaurants Alpenhof und der Bergkapelle Wirzweli auf die Bühnen des Fernsehens und der Weltausstellung begleitet. Es entstand eine eindrückliche Geschichte von zwanzig Männern und einer Frau, die im Rausch des Erfolgs versuchen, die Füsse auf dem Boden zu behalten und gezwungen sind, den Sinn und Zweck ihres Chors basisdemokratisch immer wieder neu zu definieren.
«Wir sind Schweizer Meister geworden. Das ist das Grösste», stellt Weisi Niederberger, Vorstandsmitglied und Schreiner von Dallenwil, erstaunt und stolz fest, als sie zum Sieger gekürt wurden. Die Geschichte ist eigentlich ein Märchen: Die gute Fee belohnt die rechtschaffenen Jodler vom Wiesenberg und ihre bienenfleissige Dirigentin mit dem grösstmöglichen Erfolg, stellt damit aber gleichzeitig die verschworene Gemeinschaft vor eine existenzielle Herausforderung: Verkaufen sie ihre Musik, ihre Seele? Oder gelingt es ihnen, im gleissenden Scheinwerferlicht des Showbusiness ihren Werten und Traditionen treu zu bleiben? «Man schaut jahrelang fern, sieht die Stars. Und eines Tages darf man selber dort stehen und mit ihnen singen. Das ist ein grossartiges Gefühl», kommentiert Sepp Amstutz, der zweiter Vorjodler und Gemeindeangestellter von Stans, ihre Entwicklung.
Entstanden ist ein Film, der Klischees und Vorurteile unterwandert und mit einer gehörigen Portion Situationskomik den Hype um Castingshows und Talentwettbewerbe augenzwinkernd beobachtet. «Unser Fehler war, dass wir gewonnen haben», stellt Noldi Amstutz, Vorjodler und Landwirt von der Fruttmatt, fest. Damit wurde die Ausgangslage für den Film dramaturgisch klassisch: Gewöhnliche Menschen geraten in eine aussergewöhnliche Situation. Mit ihren eigenständigen Interpretationen von bekannten Pop- und Schlagertiteln stürmen die Wiesenberger Jodler über Nacht die Hitparaden, erhalten für ihre Platten Platin und gewinnen im Herbst 2009 in einer TV-Show den Titel des «Grössten Schweizer Hits». Hunderte Anfragen für Auftritte sind die Folge. Eigentlich bräuchten sie längst ein professionelles Management. Wahrscheinlich könnten viele von ihnen vom Jodeln besser leben als vom Kühemelken oder Skiliftbügeleln. Doch vom grossen Geschäft wollen sie nichts wissen. Um die elektronische Post kümmert sich die Tochter des Vorjodlers, die CDs verschickt die Frau von Noldi, dem ersten Bass. Und wenn es um die Terminplanung geht, wird weiterhin basisdemokratisch abgestimmt: keine fromme Weihnachtstournee, kein feuchtfröhliches, fürstlich bezahltes Engagement auf einem Kreuzfahrtschiff, stattdessen wie jedes Jahr ein Konzert im Altersheim. Bei der Auswahl der Auftritte sorgen wechselnde Allianzen dafür, dass sich Frust und Lust bei allen Mitgliedern einigermassen die Waage halten. Das Filmpublikum bekommt durch die beobachtende Kamera einen Einblick in das Wesen einer mustergültigen Vereinsdemokratie: Es wird debattiert, gerungen und gestritten und trotz allem immer wieder nach dem bestmöglichen Kompromiss gesucht. Klar ist nur: Jeder Gig braucht das absolute Mehr. Politiker und Führungspersönlichkeiten könnten einiges lernen. So tönt es dann etwa: «Ich komme todsicher nicht mehr mit. Ich heue dann eure Wiesen», so Andreas Käslin, zweiter Jodler und Landwirt im Ennetbühl, oder: «Für etwas reisse ich mir den Arsch auf. Und sonst bleibe ich ganz zu Hause», Noldi Amstutz, der Vorjodler und Landwirt aus der Fruttmatt.
Auch am Wiesenberg kommt es erstens anders und zweitens, als man denkt. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs stellt eine Konzertanfrage aus dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten den Jodlerklub vor eine Zerreissprobe: Die Wiesenberger sollen am 1. August im Schweizer Pavillon an der Expo 2010 in Shanghai auftreten. «Auf der Suche nach einem Programmpunkt, der eine authentische, traditionelle und fortschrittliche Schweiz zeigt, sind wir auf den Jodlerklub Wiesenberg gestossen», heisst es in der Einladung. 8 zu 8 lautet das erste Abstimmungsresultat. Der Chor ist gespalten. Es folgt eine weitere Diskussion. Für die einen ist die Reise nach China der Höhepunkt der Vereinsgeschichte, für die anderen kommt der fünftägige Ausflug zur dümmsten Zeit, das Vieh ist auf der Alp und das Heu muss in die Scheune. China kann warten. Oder eben nicht. Nach einer neuen Diskussion folgt eine zweite Abstimmung und man beschliesst, zu gehen.
Traditioneller Juitz oder zeitgemässe Volksmusik: aufbrechen oder stehen bleiben, bewahren oder Neues wagen? Fragen, die den Chor umtreiben und vor ein Dilemma stellen, klären und erübrigen sich, wenn die zwanzig Jodler bei den Proben breitbeinig im Halbrund vor Silvia Windlin, ihrer Dirigentin, stehen und sich warm singen: «chumm, chumm, chumm». Auf einmal tönt es auf dem Wiesenberg wie in einem indischen Ashram oder einem tibetanischen Kloster. «Seit 33 Jahren arbeite ich Vollzeit und ohne Pause als Lehrerin. Und ich wage zu sagen, dass ich es der Jodelei verdanke, dass ich noch kein Burnout habe. Für mich ist es wie eine Therapie, die Arbeit im Chor gibt mir Ressourcen, die für mich eine Quelle der Meditation und ein Ort der Kraft sind», erklärt die Dirigentin, eines der Gründungsmitglieder und Lehrerin in Kerns.
Gegründet wurde der Chor vor fünfundzwanzig Jahren als eine Art therapeutische Männergruppe, auch wenn die bodenständigen Sänger vom Stanserhorn dies natürlich nie so sagen würden. Aber wer die zwanzig Männer zwischen 18 und 71 Jahren beim Einsingen beobachtet und ihnen zuhört, spürt sofort, dass hier jeder Einzelne für ein paar Stunden den richtigen Ton, den Einklang sucht. «Die Harmonie muss stimmen», meint Franz Lussi, der Fotograf, Archivar und «Aussenminister» des Klubs. Jodeln ist harte Arbeit. Denn unter der strengen Leitung ihrer Dirigentin werden die Lieder Strophe für Strophe eingeübt. Viele der Sänger haben bei der Oberlehrerin aus Dallenwil früher mal die Schulbank gedrückt, und der Respekt gegenüber dieser kleinen, energischen Frau ist mit dem Alter nicht kleiner geworden. Sie ist eine gnadenlose Drillmeisterin und toleriert bei der Intonation keine Halbheiten. Doch für die Zwanzig ist Jodeln mehr als ein Hobby. «Wenn ich auf einen Berg gehe, dann jodle ich lieber für den Herrgott, statt dass ich ein Vaterunser bete. So danke ich ihm für den schönen Tag», gesteht Fredy Wallimann, der Komponist der meisten Lieder, Co-Leiter des Chores und Dachdecker aus Ennetbürgen. Wenn es die neuen Hüftgelenke zulassen, sucht er sich am Wochenende mit einer Thermoskanne Kafischnaps und einem Tonbandgerät im Rucksack irgendwo am Stanserhorn eine gute Echowand und improvisiert dort neue Jodellieder. Noten lesen kann er nicht. Das Tonband mit den Aufnahmen bringt er ein paar Tage später in die Chorprobe, wo dann gemeinsam mit den Kollegen ein neuer Juitz entsteht.