Echo

56 Minidramen in 79-Minuten-Film: Rúnar Rúnarsson, ein internationaler Star des Kurzfilms, hat in «Echo» mit Kurzspielfilmen und Alltagsszenen ein Mosaik menschlichen Lebens geschaffen: unterhaltsam und anregend. – Ab 26. Dezember im Kino
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Alle suchen; aber was eigentlich?

Der Isländer Rúnar Rúnarsson ist mit seinen 90 internationalen Preisen der wohl berühmteste Kurzfilmregisseur. Warum soll er nicht einmal einen langen Film drehen, der aus lauter kurzen besteht? So hat er vielleicht mal gedacht. Und er hat es gemacht, und es funktioniert. Das Resultat liegt vor uns im 79-minütigen Film «Echo» mit 56 ein- bis zwei-minütigen Minidramen und Alltagsszenen. In jeder dieser meisterhaft komponierten filmischen Vignetten wirft er einen mal sarkastischen, mal melancholischen, mal lustigen, mal traurigen, doch stets humanen Blick auf unsere moderne Welt. Diese Teile zu einem Puzzle zusammensetzen und miteinander in Beziehung bringen, das ist eine spezielle Aufgabe, zu der ich einlade. Denn aus dem Gesellschaftsspiel wird bald einmal ein Gesellschaftsporträt von visueller Schönheit und dramaturgischen Winkelzügen, mit vielen Ausrufe- und vielen Fragezeichen. Insgesamt ein etwas ungewöhnlicher Weihnachtsfilm.

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Weihnachten im nicht ganz trauten Heim

Ein Weihnachtsfilm der etwas anderen Art

In einer kargen isländischen Winterlandschaft brennt lichterloh ein altes Bauernhaus, dessen Besitzer es angezündet hat, weil ein neues Fertighaus weniger kostet als eine Renovation. Ein junges Mädchen versucht vergeblich, seinen Vater mit einem Klavierstück zu beeindrucken. Ein Junkie wird geduldig von zwei Sozialarbeiterinnen versorgt und mit einem Weihnachtsgeschenk eingedeckt. Ein Hund versteckt sich ängstlich vor dem Neujahrsfeuerwerk unter dem Sofa. Und so weiter und so fort.

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Ein Brand wird bestaunt

Kleine Formate mit grossem Gehalt

Kurzfilme sind vergleichbar mit anderen kurzen Werken, etwa den Aphorismen, von denen es ja im deutschen Sprachraum viele Meister gibt, unter anderen Heinrich Heine, Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Franz Kafka, Christian Morgenstern, Friedrich Nietzsche. Analog zur literarischen Kurzform schaffen und verlangen Kurzfilme eine andere «Narration durch Bilder und Töne», meint Rúnar Rúnarsson. Auch Kurzgeschichten, deren Merkmal die Kürze und die Reduktion sind, bieten sich zum Vergleich mit Kurzfilmen an, sie verdichten eine Geschichte auf wenige Zeilen respektive Minuten, schaffen Leerräume, welche die Zuschauenden und Lesenden zu füllen haben. Ähnlich dachte wohl auch Alexander Kluge, als er sich anschickte, Minutenopern zu kreieren, da er die traditionellen Opern als zu lang empfindet.

Zu welchen ästhetischen und philosophischen Höhenflügen kurze Werke ansetzen können, zeigen die «Minima Moralia» von Theodor W. Adorno. Dieses Buch mit 153 Aphorismen und kurzen Essays über die Bedingungen des Menschseins unter kapitalistischen und faschistischen Verhältnissen, nimmt in seinem Oeuvre eine Sonderstellung ein, da die durchnummerierten Texte untereinander keinen erkennbaren theoretischen Zusammenhang aufweisen. Somit ähneln sich die literarischen Aphorismen Adornos und die filmischen Aphorismen Rúnarssons.

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Auf dem Weihnachtsbaum-Markt

Aus einem Interview mit Rúnar Rúnarsson

Wie kam es zur Idee für «Echo»? Es handelt sich um eine alte Idee, die mir nach dem letzten Film wieder in den Sinn kam. Ich begann der üblichen griechischen Erzähltradition etwas überdrüssig zu werden, die immer auf einer Ausgangssituation, Wendepunkten und einem Ergebnis beruht. Als ich mit «Echo» anfing, war das anders, ich fühlte mich als Autor ziemlich lebendig.

Jagte es Ihnen Angst ein, einen Film zu machen, der ganz anders ist als Ihre letzten langen Filme? Ja, in einem guten Sinne. Erst als ich die letzten Szenen im Kasten hatte, wurde mir seine Struktur bewusst. Gleichzeitig war es etwas, das ich tun musste. Zum Leben an sich und zum Dasein als Autor gehört es, sich Herausforderungen zu stellen. Ich versuche immer, eine Art von Realität einzufangen oder das Leben zu beobachten. Jeder Film ist für mich eine persönliche Reise. Das gilt auch für «Echo». In meinen anderen Filmen gibt es in jeder einzelnen Szene eine Hauptfigur. In diesem Film ist die Hauptfigur die Gesellschaft.

Wie entwickelten sich die Szenen? Meine Erzählweise ähnelt dem Steinesammeln am Strand: Jeder Stein ist auf seine eigene Weise etwas Besonderes. Er kann glatt oder rau aussehen oder ganz unscheinbar. Wenn du dann nach Hause kommst, alle Steine auf den Küchentisch legst und vermischst, kannst du ein Mosaik zusammensetzen und ein Ganzes daraus machen. «Echo» ist ein Film, der Wirklichkeit einfängt, in Gang und in Szene setzt.

Warum haben Sie den Film in der Weihnachtszeit angesiedelt? Die Tage vor Weihnachten und die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr bilden einen Bogen. Danach beginnt das neue Jahr. Die Weihnachtszeit verstärkt unsere Gefühle; ob wir diese Zeit mögen oder nicht, gewisse Aspekte dieses Jahresabschnitts wecken in uns auf jeden Fall Gefühle. Das Jahresende ist auch eine Zeit der Besinnung, und egal, ob du religiös bist oder nicht, ist es eine Zeit, in der die Gesellschaft verlangt, dass man sich von seiner besten Seite zeigt. Das kann aber auch bedeuten, dass sich die Menschen von ihrer schlechtesten zeigen.

Wie entschieden Sie über Anzahl und Reihenfolge der Szenen? Es sind 56 Szenen. Diese Zahl hat für mich keine Bedeutung. Es ist reine Gefühlssache. Wir haben viel mehr Szenen gedreht. Bei der Montage war das die Zahl, die meine Aufmerksamkeit nicht erlahmen liess. Auch die Reihenfolge war Gefühlssache.

Sie haben gesagt, dass die Gesellschaft die Hauptfigur ist. Wollen Sie uns etwas Bestimmtes über die heutige Gesellschaft sagen? Der Film ist ein Porträt, und wenn jemand etwas porträtiert, dann kann man zwischen den Zeilen lesen, welche Sichtweise der Autor hat. Ich werde bei jedem Film gefragt: «Was wollen Sie uns sagen?» Es gibt diese Forderung, dass Filme wie Bibelgeschichten eine klare Moral vertreten sollten. Doch das Leben ist komplizierter.

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Raketen und Knallkörpern für Sylvester

Zum Filmemacher

Rúnar Rúnarsson wurde 1977 in Reykjavik geboren, lebte sieben Jahre in Dänemark, wo er 2009 an der lokalen Filmschule seinen Abschluss machte. 2006 wurde er für einen Oscar und 2008 für die Goldene Palme und den Europäischen Filmpreis nominiert, mit über 90 internationalen Preisen ist er wohl der am meisten umjubelte Kurzfilmregisseur der Welt. Später kehrte er nach Island zurück, um seinen ersten Langfilm «Volcano» zu drehen, der 2011 in Cannes gezeigt wurde, und 2015 «Sparrows», der in San Sebastian mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet wurde. «Echo» ist sein dritter langer Spielfilm.

Regie: Rúnar Rúnarsson, Produktion: 2019, Länge: 79 min, Verleih: xenixfilm