Erbarme dich: Matthäus Passion Stories

Eine andere Matthäus Passion: Die «Matthäus Passion» von J. S. Bach hat mit dem Film «Erbarme dich: Matthäus Passion Stories» des Niederländers Ramón Gieling eine eindrückliche und anregende moderne Interpretation erhalten.
Erbarme dich: Matthäus Passion Stories

Das Volk beim grossen Gastmahl: wie alles im Film, eine Einladung zur Auseinandersetzung

«Die «Matthäus-Passion, BWV 244, ist», nach Wikipedia «eine oratorische Passion von Johann Sebastian Bach. Der Bericht vom Leiden und Sterben Jesu Christi nach dem Evangelium nach Matthäus bildet das Rückgrat. Ergänzt wird er von eingestreuten Passionschorälen und erbaulichen Dichtungen von Picander in freien Chören und Arien. Die "Matthäus-Passion" und die "Johannes-Passion" sind die beiden einzigen vollständig erhaltenen authentischen Passionswerke von Bach. Mit etwa 200 Minuten Aufführungsdauer und einer Besetzung von Solisten, zwei Chören und zwei Orchestern ist sie Bachs umfangreichstes und am stärksten besetztes Werk und stellt einen Höhepunkt protestantischer Kirchenmusik dar. Die Uraufführung fand am 11. April 1727 in der Thomaskirche in Leipzig statt. Nach seinem Tod geriet das Werk in Vergessenheit. Die Wiederaufführung in einer gekürzten Version unter Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1829 leitete die Bach-Renaissance ein.»

Entstanden ist die «Matthäus Passion» im Jahre, als sein Lieblingssohn Bernhard, 27-jährig, gestorben war. Bachs Erschütterung und künstlerische Verarbeitung derselben dürften wohl ein Grund sein, weshalb das Werk auch nach über 250 Jahren das Publikum berührt und immer wieder Künstler zu neuen Interpretationen anregt. Der Film «Erbarme dich: Matthäus Passion Stories» des holländischen Regisseurs Ramón Gieling, der sich eingehend mit dem Original auseinandersetzt, erzählt die in Musik transformierte Geschichte mit grosser gestalterischer Fantasie und inszenatorischer Kraft: mit Einzelnen und Gruppen, die schicksalhaft oder zufällig «Passion» erfahren haben. Das Leiden und Sterben Jesu Christi wird darin verwoben mit dem Unglück und dem Leiden der Menschheit: Musiker, Sänger, Maler, Tänzer sowie weitere Menschen, die in ihren persönlichen Beziehungen zu Gott, zu Trauer und Schuld, zu Leiden und Reue ihre Erfahrungen gemacht haben.

Highlights der Filmversion

Die langen, meist ruhigen Aufnahmen sind vornehmlich in Orange, Braun, Grau oder Schwarz-weiss, nur selten in kaltem Blau gehalten und sind eingebettet in die kraftvolle und dennoch innige Musik sowie gesprochenen und gesungenen Auszügen aus dem Evangelium. Den ausführenden Künstlern werden, mit starker symbolischer Wirkung, Mitglieder eines Obdachlosenchors gegenübergestellt, welche die Aufführung beobachten und durch ihre Anwesenheit kommentieren. Ein besonderer Akt gegen Schluss des Films ist eine Sequenz mit einem Mahl, das an Leonardo da Vincis, aber auch Luis Buñuels «Abendmahl» erinnert. Das Mahl steht wohl für «Communio», diesen Kern jede Religiosität. Trotz Erbarmungsrufen und Wehklagen strahlt das Werk in seiner absoluten Schönheit und Grösse letztlich Erlösung aus. Die «Stories» der einzelnen Figuren im Film betreffen auch uns Zuschauende und wohl auch alle andern. «Erbarme dich: Matthäus Passion Stories» von Ramón Gieling ergiesst sich wie ein visionärer, alles umfassender Bewusstseins- und Erlebnisstrom über uns, der letztlich aus den Tiefen des Genies von Johann Sebastian Bach stammt.

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Geflohen aus Novosibirsk, verarbeitet eine Sängerin ihr Leben mit der Musik von Bach

«Die beste Erfindung der Menschheit ist Gott»

Von dieser provokativen These, die an Ludwig Feuerbachs «Der Mensch schuf Gott nach seinem Bild und Gleichnisse» angelehnt ist, gehen weitere ähnliche Sätze aus, die immer wieder zur Auseinandersetzung auffordern, kontrapunktisch zur beruhigenden Innerlichkeit der Musik und des Gesanges. Insgesamt bieten der neue Film wie das originale Oratorium mehr als einen blossen musikalischen Hochgenuss. Sie berühren uns als Gläubige und Ungläubige und lassen uns nicht mehr los. Viele von uns dürfte schon das erschütternde Lied «O Haupt voll Blut und Wunden» in früheste religiöse Karwochen-Erfahrungen zurückversetzen und in unserem Tiefsten berühren.

«Erbarme dich: Matthäus Passion Stories» geht über das Einzelschicksal von Jesus' Sterben hinaus, bezieht heutige Geschichten ein und weitet den Horizont auf die ganze Welt. Bilder von Kriegen, einer leidenschaftlichen Liebes- oder Vergewaltigungsszene, einem Boxkampf, Ausschnitte aus dem Film «Accatone» von P. P. Pasolini und andere Filmeinspielungen weiten das Thema aus, machen es welthaftig. Einen weiteren eindrücklichen Höhepunkt bildet das das berühmte Gemälde «Die Kreuzigung» von Matthias Grünewald, das zusätzlich zum Original von Darstellern in Szene gesetzt wird. Die persönlichen Erfahrungen und Interpretation führen uns zu allgemeinmenschlichen, vielleicht ewigen Themen wie Schuld, Reue, Trauer, Verzeihen und Trost – diese wiederum zurück zu uns im Hier und Jetzt.

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Hoch professionell, doch nicht den Konventionen gehorchend

Matthäus Passion: mehrschichtig und mehrdimensional

Im Film nehmen wir an Proben für eine Inszenierung in einer verlassenen Kirche, an Aufführungen vor Publikum mit professionellen Akteuren und gleichzeitig mit Armen, Behinderten und Verwahrlosten in einer Gassenküche teil. Damit ist der Film mehr als ein erbaulicher Konzertfilm. Er ist eine kreative, den Alltag einbeziehende und transzendierende Nacherzählung von Leiden und Leidenschaften, welche Menschen erfahren haben. Auf verschiedenen Ebenen verbindet der Film Musik und Gesang mit assoziativen Bildern, Ausschnitten mit dramatisierten Szenen sowie Porträts von Menschen, die über ihre Beziehung zur Musik von Bach sprechen. Musiker kommen ebenso zu Wort wie andere Künstler, aber auch die Frau, die buchstäblich ihr Leben Bachs Musik verdankt, und weitere Bekannte wie der Regisseur Peter Sellars, der Chorleiter Simon Halsey und der Dirigent Pieter Jan Leusink, dessen Interpretation mit dem Bach Choir & Orchestra als musikalischer roter Faden dient. «Erbarme dich: Matthäus Passion Stories» ist ein Werk herausfordernder Filmkunst, das – was bei grosser Kunst immer wieder nötig ist – vorerst verunsichert und provoziert, um dann im Ablauf des Werkes mehr und mehr berührt, betrifft, herausfordert und schliesslich tief beglückt.

Regie; Ramón Gieling; Produktion: 2014, Länge: 99 min, Verleih: cinelibre