Evil Does Not Existe

Symphonie eines Unter- oder Überganges: In «Evil Does Not Existe» von Ryūsuke Hamaguchi gefährdet ein abstruses Luxuscamping-Projekt die soziale und ökologische Balance in einem japanischen Bergdorf. Der radikale und geheimnisvolle Film kann als Symphonie eines Untergangs oder eines Übergangs gelesen werden. Ab 11. April im Kino
Evil Does Not Existe

Tochter Hana

In einer langen Einleitungssequenz gleitet die Kamera durch die Wipfel und Äste eines winterlichen Waldes in Richtung des blauen Himmels, begleitet von sphärischer Musik – so als ob der Regisseur diese Welt soeben für uns erschaffen hätte. Visuell und akustisch tauchen wir damit in eine Welt sozialer und ökologischer Balance ein, die von Menschenhand unterhalten wird, doch bald schon aus den Fugen zu geraten droht. Damit laden uns Ryūsuke Hamaguchi mit seinem klugen Drehbuch und der sensiblen Regie, Yoshio Kitagawa mit der einfühlsamen Kamera und Eiko Ishibashi mit der fremden Musik ein in den als metaphorisch zu lesende Film «Evil Does Not Existe» und verwendet viel Zeit und Raum, um uns mit dem neuen Universum aus Tönen, Klängen, Bildern und Bewegungen vertraut zu machen.

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Vater Takumi

Erster Akt: Leben in der Idylle des Dorfes

Nach einigen Minuten gleitet der Blick hinunter in ein Dorf, dort zur achtjährigen Hana, die durch den Wald schlendert, und ihrem Vater Takumi, mit dem sie die Namen der Bäume und Sträucher benennt, zwei Rehen und einem toten Rehkitz begegnet und eine Fasanenfeder findet. Lärm einer Motorsäge durchdringt die Stille im Wald, und wir sehen Takumi Holz sägen, spalten und vor dem Haus aufschichten, der dann am nahen Bach Quellwasser in Kanister abfüllt und am Weg mit einem Kollegen wilde Wasabi-Blätter findet und kostet.

Das Dorf Mizubiki, unweit von Tokyo gelegen, gibt es erst seit dem Zweiten Weltkrieg, es wurde von Stadtmenschen aus der Sehnsucht auf Landleben besiedelt; Touristen wurden wegen zu viel Abwasser nicht geschätzt.

Vater und Tochter wandern weiter und kommen an einen zugefrorenen See und entdecken Tierspuren im Schnee, dazwischen fällt ein Gewehrschuss.

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Die Agenten der Glamping-Firma

Zweiter Akt: Ein Luxusressort soll entstehen

Die Firma «Playmode» in Tokyo will in Mizubiki einen Vergnügungspark bauen. Zwei Angestellte, der Manager Takahashi und seine Assistentin Mayuzumi, kommen ins Dorf, um die Bevölkerung dafür zu gewinnen. Nach der Präsentation des Projektes können Fragen gestellt werden und beginnt eine engagierte Auseinandersetzung für und gegen Ökonomie respektive Ökologie im Umfeld des geplanten Camping-Ressorts. Unzufrieden und verunsichert reisen die beiden nach der Präsentation zurück.

Für eine Auswertung werden die beiden zum Chef bestellt, dem sie berichten, was sie erlebt haben. Er versteht die vorgebrachten Argumente nicht und schlägt neue Strategien vor, mit denen das Projekt durchgeboxt werden soll. Die Agenten fahren zurück und treffen sich mit Takumi, um ihn als Fürsprecher, Vermittler oder sogar Berater zu gewinnen. Erfolglos, die Argumente der Bevölkerung bleiben bestehen.

«Wann immer der Mensch in die Natur eingreift, zerstört er sie. Das ist Teil unserer Lebensführung und wir können es nicht vermeiden. Die Frage ist, wie wir es regulieren können. Dazu brauchten wir den Dialog, dem die Gesellschaft nicht viel Bedeutung beimisst.» So umschrieb Ryūsuke am Filmfestival von Venedig, wo er den Silbernen Löwen und den Grossen Preis der Jury erhielt, seine Intension.

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Die Bevölkerung bei der Präsentation

Dritter Akt: Alarm «Ein Kind wird vermisst!»

Während der erneuten langen Autofahrt zurück ins Dorf diskutieren Takahashi und Mayuzumi intensiv über das Projekt und die Reaktionen der Bevölkerung. Bald schwindet auch ihre Überzeugung dafür, breitet sich Verunsicherung aus. Persönlich kommen dafür die beiden sich näher und beginnen, ihren Auftrag, ihren Job und schliesslich ihren Beruf infrage zu stellen. Vom Rücksitz oder Beifahrersitz aus verfolgen wir ihr langes Gespräch miteinander im Auto und später im Dorf mit Takumi.

Diese Sequenz hat den gleichen Roadmovie-Charakter wie jene im Vorgängerfilm «Drive my Car». In beiden werden allgemeinmenschliche Bedürfnisse erfahrbar, wie sie der französische Philosoph Gabriel Marcel im «Homo viator» mit Auf-dem-Weg-Sein als Existenzform umschrieben und Akira Kurosawa, der Grossmeister des japanischen Kinos, in «Rashomon» unübertroffen inszeniert hatte.

Im Gegensatz zum anfänglich langsamen Verlauf wird der Film gegen Ende handlungsreicher, hektischer. Das beginnt mit dem Lautsprecher-Alarm: «Ein Kind wird vermiss!» Wir denken wohl sofort an Hana, die Takumi schon mehrmals vergessen hat. Sofort ist das ganze Dorf auf den Beinen und sucht nach dem Kind. Wieder fällt ein Schuss, und wir fragen, wer wohl vermisst wird und suchen dafür Indizien in vorangegangenen, scheinbar nebensächlichen Handlungen. Doch diese bringen nicht mehr als Vermutungen, die wir wie die Steine eines Mosaiks schnell zusammensetzen und ebenso schnell wieder auseinandernehmen.

Nachdem in den folgenden kurzen Handlungsfragmenten, die wir jetzt wohl genauer als bisher wahrnehmen, Anspielungen gemacht werden, die aber zu keiner Eindeutigkeit führen, steigt die Kamera wieder zu den Baumwipfeln – und es wird Nacht.

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Vater und Tochter

Versuch eines Epilogs Fragen nach der Botschaft

Nachdem ich durch die international publizierten Kritiken zu diesem Film gescrollt hatte, fiel mir auf, dass vor allem ausführlich über die Schönheit und die Meisterschaft von «Evil Does Not Existe» geschrieben, kaum aber ein Versuch unternommen wurde, nach der Botschaft des Films zu fragen. Vielleicht wäre es aber gerade bei Ryūsuke Hamaguchi wichtig gewesen. Ich weiss es nicht, will es aber in einem Nachspiel, also einem kleinen Epilog, versuchen.

Erster Versuch: Die wahrgenommenen und kombinierten Details gegen Schluss des Films weisen auf Deutungen hin, überlassen es aber uns, eindeutige Schlüsse zu ziehen. Heisst das eventuell, dass es nur für jeden und jede einen für ihn und sie zutreffenden eigenen Schluss gibt?

Zweiter Versuch: Ich schaue mir den Wortlaut des Titels an: Hat «Evil Does Not Existe» vielleicht so etwas wie Ober- oder Untertöne? Meint er, dass es das Übel gar nicht gibt, nicht geben soll oder darf? Sind folglich die Diskussionen über Ökologie und Ökonomie oder die Befindlichkeit der Akteure nur Nebenschauplätze? Ist der Titel in der einen oder andern Leseart selbst die Botschaft?

Dritter Versuch: Prägend wie die Bilder sind in diesem Film auch die Töne, die Geräusche, die Musik. Schon früher hatte Ryūsuke Hamaguchi mit der avantgardistische Musikerin Eiko Ishibashi gearbeitet: beim Soundtrack von «Drive My Car» und bei der Live-Performance von Eiko, zu der Ryūsuke das Szenario schrieb. Könnte es also sein, dass die Botschaft dieses Films in der Musik liegt? Und da ich Musik nicht in Worte übersetzen kann - könnte sie als Geheimnis weiter im Verborgen bleiben.

Regie: Ryūsuke Hamaguchi, Produktion: 2023, Länge: 106 min Verleih: Cineworx