Drive My Car
Misaki, die Fahrerin, Kafuku, der Gastregisseur
Yusuke Kafuku, ein Theaterschauspieler und Regisseur, ist glücklich verheiratet mit Oto, einer Drehbuchautorin beim Fernsehen. Plötzlich stirbt Oto und hinterlässt ein Geheimnis. Zwei Jahre später erhält Kafuku, der den Verlust der geliebten Frau noch nicht verkraftet hat, das Angebot, bei einem Theaterfestival in Hiroshima «Onkel Wanja» von Anton Tschechow zu inszenieren, zu dem sich auch Takatsuki, ein Verehrer von Oto, zum Casting meldet. Für seine Arbeit als Gastregisseur wird ihm Misaki, eine zurückhaltende junge Frau, als Fahrerin zugewiesen. Während der gemeinsamen Fahrten öffnen sich Fahrerin und Fahrgast allmählich und kommen sich näher. Seine und ihre Vergangenheit sind von Rätseln überschattet, die sich erst allmählich in ihrer Begegnung auflösen.
Ryusuke Hamaguchi, der Regisseur von «Drive My Car», wurde 1978 in Kanagawa, Japan geboren. Nach dem Abschluss an der Universität von Tokio arbeitete er einige Jahre in der Filmbranche, bevor er an der Universität der Künste ein Filmstudium aufnahm. Sein Abschlussfilm «Passion» wurde 2008 auf dem San Sebastian Film Festival und im Wettbewerb von Tokyo FILMeX gezeigt. Von 2008 und 2021 schuf er 14 Filme, die an Festivals ausgezeichnet wurden.
Der Dramaturg, der Gastregisseur, die Theaterdirektorin (v. l.)
Verschlungene und sich enthüllende Lebenswirklichkeiten
Ab der ersten Einstellung führen uns eine grosse Langsamkeit und umfassende Stille sowie eine visuelle und akustische Schönheit in den Film ein. Wenn wir Zuschauende und Zuhörende uns erst einmal darauf eingelassen haben, so meine ich, bewegt sich der Film wie ein wohltuender Flow und wir erfahren menschliche Wärme, zärtliche Akzeptanz und Achtsamkeit.
Was in der ersten halben Stunde gesprochen wird, vielleicht etwas fremd und unverständlich, bekommt spätestens in der letzten Stunde des Film Sinn. Dramaturgisch ähnlich funktioniert der ganze Film: Ellipsen lassen Zeit aus, überspringen Teile der Geschichte, brechen Sätze ab, was sich jedoch gegen Ende zu klären beginnt.
Die Handlung lässt sich Zeit und verlangt von uns Zeit, wenn es um Geschichten geht, die von tief innen erzählt werden. Denn alles, was gesagt, gezeigt oder auch nur angedeutet wird, hat Bedeutung. Sichtbares und Hörbares steht für Unsichtbares und Unhörbares. Alles hängt mit allem zusammen, durch Schnitt und Musik miteinander verbunden.
Intensiver noch als in anderen Filmen, wo Landschaften auch als «Paysages d'âmes» wirken, sind hier Landschaften Überhöhung, respektive Vertiefung dessen, was in und zwischen den Personen abläuft. Shinomiya Hidetoshis Bilder des Meeres, der Berge, der Wohnräume, der Häuserfluchten von Tokyo und von Hiroshima mit seinen Denkmälern des Atombombenabwurfs werden zu eigentlichen Mitspielern, was Okidoki Izuta mit der Musik verstärkt.
Reich wird der Film überdies durch die verschiedenen Ebenen, auf denen er spielt: Oto und Kafuku erfinden Geschichten fürs Fernsehen, die wie banale Fantasien daherkommen, jedoch, wie sich später zeigt, direkt mit ihrem Leben zu tun haben; Kafuku spielt in Samuel Becketts «Warten auf Godot» einen der Clowns; Otos Verehrer probt Wanjas Rolle, Kafuku spielt sie. Das Stück und der Film enden mit: «Was sollen wir tun? Wir müssen leben.»
Ein Kommentar des Regisseurs Ryusuke Hamaguchi
Es gibt drei Gründe, warum ich einen Film über Haruki Murakamis Erzählung «Drive My Car» machen wollte.
Takatsuki, der Wanja der Proben, Kafuku, der Wanja der Aufführung
Die Annäherung von Kafuku und Misaki
Zum einen geht es um Kafuku und Misaki und um die Interaktionen zwischen diesen beiden faszinierenden Figuren. Und diese finden in einem Auto statt. Das weckte bei mir Erinnerungen an intime Gespräche, die nur in diesem abgeschlossenen Kosmos entstehen können. Weil es auch ein sich bewegender Raum ist, ist er eigentlich nirgendwo, und es gibt Zeiten, in denen solch ein Ort uns hilft, Aspekte von uns selbst zu entdecken, die wir noch nie jemandem gezeigt haben, oder Gedanken, die wir vorher nicht in Worte fassen konnten.
Der Wahnsinn des Schauspielerns
Als Nächstes hat die Erzählung das Handeln zum Thema. Schauspielern heisst, mehrere Identitäten zu haben, was sozusagen eine gesellschaftlich akzeptierte Form des Wahnsinns ist. Diesen Beruf auszuüben, ist natürlich zermürbend und führt manchmal zu Nervenzusammenbrüchen. Aber ich kenne Menschen, die keine andere Wahl haben, als es zu tun. Und diese Menschen, die um ihr Leben spielen, werden tatsächlich durch diesen Wahnsinn geheilt, der es ihnen ermöglicht, weiterzuleben. Diese Art von Schauspielerei als «Überlebensstrategie» ist etwas, das mich schon lange interessiert.
Die intuitiv erspürte Wahrheit
Der letzte Faktor ist die zweideutige Figur des Takatsuki. Kafuku ist sich ziemlich sicher, dass er mit seiner Frau geschlafen hatte, bevor sie starb, und er hält den Mann für einen «nicht besonders geschickten Schauspieler». Doch eines Tages deckt Takatsuki Kafukus blinden Fleck auf: «Wenn wir hoffen, einen anderen Menschen wirklich zu sehen, müssen wir damit beginnen, in uns selbst zu schauen.» Durch diese ziemlich stereotype Bemerkung ist Kafuku am Boden zerstört, denn er spürt intuitiv, dass es sich um eine Wahrheit handelt, zu der er allein nie hätte gelangen können. «Seine Worte waren klar und voller Überzeugung. Er hat nicht geschauspielert, so viel ist sicher.»
Zwei Schauspielerinnen beim Proben für «Onkel Wanja»
Wahrheiten aus der Fiktion des Schauspiels zu spüren
Ich dachte: «Ich kenne solche Stimmen. Ich habe sie schon im wirklichen Leben gehört.» Ausserdem wusste ich, dass man, wenn man eine solche Stimme hört, nicht mehr derselbe sein kann wie vorher und dass man verpflichtet ist, auf das zu antworten, was diese Stimme von einem verlangt. Die Erzählung geht nicht darauf ein, was danach geschah, und ich hatte das Gefühl, dass Kafukus Antwort noch nicht dargestellt worden war. Als ich mit der Verfilmung dieser Erzählung begann, die voller faszinierender Elemente steckt, war es mein Ziel, diese Fragen und Antworten als eine Kette von Stimmen zu entfalten, die die Wahrheit enthalten, wie sie in der Geschichte dargestellt wird, um zu Kafukus endgültiger Antwort zu gelangen. Dabei ging es auch darum, eine Erfahrung für das Publikum zu schaffen, die es ihm ermöglicht, die Wahrheit durch die Fiktion des Schauspiels kontinuierlich und intuitiv zu spüren.
Kafuku und Misaki
Die Hoffnung auf das Gelingen
Schafft der Film «Drive My Car» das? Ich weiss es nicht. Ich denke, die Antwort auf diese Frage wird noch lange auf sich warten lassen. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass die Zeit, die wir mit den Dreharbeiten zu diesem Werk verbracht haben, eine glückliche war. Alle Figuren, angefangen bei Kafuku, drücken Schmerz aus, dennoch habe ich bei allen Schauspielern am Set die Freude am Spielen gespürt. Und was wurde schliesslich von der Kamera gefilmt? Ich bin sehr gespannt, wie das Publikum diesen Film interpretieren und darauf reagieren wird. – Hierzulande gibt es enthusiastische Kritiken in den Medien.