Ich habe in Moll geträumt
Walter Rufer 1931 – 1975
Mehr als vier Jahrzehnte nach seinem Erscheinen wird Walter Rufers 1963 in München veröffentlichtes und dann in Vergessenheit geratenes Buch «Der Himmel ist blau. Ich auch» durch Zufall von zwei Münchner Musikern antiquarisch wiederentdeckt und auf ihre Anregung hin neu aufgelegt. Der schmale Gedichtband mit dem Untertitel «Schwabinger Tagebücher» versammelt 139 datierte Lebenszeugnisse aus fünf Jahren eines ohne Ziel durch Münchens damaliges Künstlerviertel streifenden Müssiggängers und Bohemiens, der sich als Dichter versteht, doch in den Mühen des Alltags mit seinen Gefährdungen hoffnungslos stecken bleibt. Die Kraft, der Humor und die virtuose Einfachheit seiner Texte finden in der Literaturberichterstattung posthum Aufmerksamkeit und Anerkennung. Doch die Person des völlig unbekannten Autors, von dem die Herausgeber kaum mehr in Erfahrung bringen, als dass es sich um einen 1931 in Zürich geborenen Schweizer handelt, der sich als junger Mann für ein paar Jahre in München als Schauspieler und Schriftsteller versucht und, nach Zürich zurückgekehrt, 1975 stirbt.
Witwe Margrith Rufer
«Der Himmel ist blau. Ich auch»
Von der Neuauflage des Buchs von Walter Rufer erfährt seine Familie in der Schweiz aus einer Besprechung in der Literaturbeilage der NZZ mit der Überschrift «Ein Verschollener». Doch zu diesem Zeitpunkt ist Walter Rufer bereits seit 32 Jahren tot. Als er mit 44 Jahren an den Folgen seiner Alkoholkrankheit stirbt, hinterlässt er eine junge Frau und zwei kleine Kinder. Der Zeitungsartikel trifft seine Familie völlig unvorbereitet. Längst bewältigt geglaubte quälende Fragen drängen unaufhaltsam zurück in ihr Leben. Entlang dem Text «Der Himmel ist blau. Ich auch» begibt sich der Schweizer Filmemacher Ueli Meier auf die Suche nach Walter Rufers Leben und Werk, abwechselnd aus den Perspektiven der Familiengehörigen und Zeitzeugen.
Tochter Sara Rufer
Anmerkungen des Autors Ueli Meier
Als ich Walter Rufers Schwabinger Tagebücher «Der Himmel ist blau. Ich auch» zum ersten Mal in den Händen hielt, musste ich schon beim Lesen seines allerersten Eintrags spontan lachen. Seine fünf Jahre umfassende umwerfende Chronik des Nichtstuns beginn zum 1. Januar mit dem einzigen Wort «Kater».
Rufer erweist sich in seinem schmalen Gedichtband als Meister des Erzählens von Geschichten mit knappsten literarischen Mitteln. Seine Texte sind «Scènes de la vie de bohème» in minimalistischen Skizzen voller Widerstand, die vor allem auch durch ihren Ton und ihre antibürgerliche, gleichzeitig dem «Helden» des Buchs mit entlarvender (Selbst-)Ironie gegenüberstehende Haltung bestechen. So:
Tiefbeglückt
frühgestückt.
Maschinenschontag eingeschaltet.
faulgelenzt und Freizeit gestaltet.
Doch je länger ich im Buch las, mischte sich in die unbeschwerte Heiterkeit meines Lesevergnügens zusehends ein Gefühl uferloser Verlorenheit und leiser Trauer. Wurde ich beim Lesen der Gedichte nicht fortwährend Zeuge inniger Träume, die abstürzen und entzweigehen? Lässt er seine Leserinnen und Leser nicht teilhaben an der wundersam beginnenden, rettenden Liebe zwischen seinem Protagonisten und der bezaubernden Marie, die sich, irgendwann und kaum bemerkt, wortlos in Nichts auflöst? Sind am Ende seiner Schwabinger Tagebücher nicht selbst die letzten Hoffnungen seines schriftstellerischen Alter Ego im Alkoholrausch ertrunken?
Das Buch ging mir ungeahnt nahe. Doch was hat ihn bewogen, diesen Text niederzuschreiben? Meine von allem Anfang an mit einer Kamera festgehaltenen Recherchen führten mich zu seinen engsten Familienangehörigen und zu Zeitzeugen, die ihn auf den verschiedenen Abschnitten seines von kolossalen Brüchen gezeichneten Lebens in München und in der Schweiz begleitet haben. Und ebenso befragte ich die Personen, die in unterschiedlichen Funktionen in die Wiederentdeckung des Buches involviert waren. Je tiefer ich in ihre Erinnerungen, Reflexionen und bis heute unbeantworteten Fragen in seine Lebensgeschichte eintauchte, wurde ich Zeuge eines unerhörten Dramas.
Wenn Walter Rufer als junger Mann sein von traditionellen kleinbürgerlichen Schweizer Werten geprägtes Umfeld verlässt, um in München mit seinen dichterischen Werken Teil von etwas Grossem und Absichtsvollem zu sein, zehn Jahre später aus der fremden Künstlerwelt in die Konvention zurück flüchtet, gibt es für ihn eigentlich keine Rückkehr mehr. Sein grosser Traum ist für immer ausgeträumt. Im fatalen Wissen um die zerbrochenen Illusionen versucht er, mit dieser Wahrheit weiterzuleben. Doch sosehr er sich in seinem neuen bürgerlichen Leben als Journalist und Familienvater wiederzufinden sucht, es bleibt für immer ein Akt der Selbsttäuschung.
Sohn Urs Rufer
Eine nicht endenwollende Suche
Die Personen, die sich mit dem Filmemacher auf den Weg nach Walter Rufers Vergangenheit aufgemacht haben: Margrit Rufer, seine Witwe, Urs und Sara, seine Kinder, Günter Galles, ein Münchner Freund, Gabrielle Lorenz, Kritikerin der «Abendzeitung», Margrith Schaub, seine Cousine, Andrea Staebler und Jörg Wizigmann, die Musiker, die das Buch entdeckt haben.
Ähnliche Filme, bei denen es ebenfalls um die Erforschung und Aufarbeitung der unbekannten Vergangenheit eines Menschen geht, gipfeln meist in einer Entdeckung, einer Aufklärung, einer Begegnung; «Ich habe in Moll geträumt» gelingt dies nur zum Teil. Einerseits liegt es wohl am Filmteam, das noch weiter hätten hinterfragen können; andernteils in der Ungreifbarkeit dieses Menschen, letztlich jedes Menschen. Verrät dieses existenzielle Nicht-Ganz-Gelingen nicht im Tiefsten ein Abbild des menschlichen Strebens nach dem Ganz-Gelingen und gleichzeitig dessen Begrenztheit. Gewollt oder ungewollt, lässt der Film vieles im Offenen, Unvollkommenen, Misslungenen – Eigenschaften, die mir den Film sympathisch machen. Als Abschluss und Beleg für meine Haltung ein paar Texte aus dem Buch, ohne Datumsangaben, mit der Orthografie von 1963:
In Schwabings Gemäuer
haust seit heuer
ein bärtiges Ungeheuer
und dieses bezeichnet sich unverblümt
als berühmt.
Doch keiner kennt es,
will man's besuchen, pennt es.
Ernüchtert festgestellt:
Alles beim alten auf der Welt.
Im Bette lag ick
und grübelt über die Tragik:
Ein verliebtes Schneckenpaar
hat sich im vergangenen Summer
aus lauter Liebeskummer
In einer Mondscheinnacht
umgebracht.
Man fand die beiden später
zwar tot, doch tête-à-têter.
Der Vollmond lächelte kitschig,
die Schnecken waren glitschig.
Ein Papagei fiel von der Stange,
es muss im Schlaf gewesen sein.
Es blutete die rechte Wange,
gebrochen war das linke Beim.
Er starb, wer hätte das gedacht,
noch in der bösen Unfallnacht.
Auf seinem Grabstein steht zu lesen:
Es stirbt, wer nicht mehr kann genesen.
Im Traume verreist
und Probleme eingekreist.
Am frühen Morgen Blut gespendet,
die erste Seite eines Bestsellers beendet,
und weil sich die Jahreszeit gewendet,
anschliessend den Wintermantel verpfändet.
Buch: Walter Rufer: Der Himmel ist blau. Ich auch, Schwabinger Tagebücher, Blumenbar Verlag, München 2007
Regie: Ueli Meier, Produktion: 2020, Länge: 75 min, Verleih: Sihlfeld Film