Gabrielle

«Gabrielle», der zweite Film von Louise Archambault, ist ein Hymnus auf die Liebe, am Beispiel von Menschen mit dem Williams-Beuren-Syndrom.

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Gabrielle mit dem Chorleiter

Mit viel Einfühlungsvermögen für die Besonderheiten ihrer Darstellerinnen und Darsteller hat die kanadische Regisseurin Louise Archambault einen authentischen, zu Herzen gehenden Film über die Liebe zwischen Menschen mit Behinderungen geschaffen. Grosses Lob erntete die Titelheldin, die selbst das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) hat, an der Weltpremiere in Locarno, wo der Film stürmischen Beifall erntete und zum Publikumsliebling avancierte.

Das WBS wird von einem seltenen genetischen Defekt verursacht. Menschen mit dieser Krankheit weisen ein charakteristisches Äusseres auf, haben meist aufgeworfene Lippen, kugelige Nasenspitzen, kleine Zähne mit Zahnlücken und häufig gekräuseltes Haar. Sie leiden oft unter Kleinwuchs, Bluthochdruck, häufigen Atemwegs- und Mittelohrentzündungen, Herzfehlern und Fehlbildungen an den grossen Hauptschlagadern sowie Diabetes.

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Glücklich und verliebt, auch als Menschen mit Behinderungen

Die Geschichte von Gabrielle und Martin lässt erleben, wie viel Gemeinsames Menschen mit und ohne Behinderungen haben.

Gabrielle (Gabrielle Marion-Rivaed) ist 22, hat eine unbändige Lebensfreude und besucht den Chor im Kulturzentrum für Menschen mit Behinderung «Les Muses». Sie liebt Musik, hat ein ausgezeichnetes Gehör und singt fürs Leben gern. Zu ihrer Schwester Sophie (Mélissa Désormeaux-Poulin) hat sie einen engen Kontakt. Im Vertrauen erzählt sie ihr, dass sie sich in Martin (Alexandre Landry), einen Jungen, der auch im Chor mitsingt, verliebt hat. Allmählich kommen sich Gabrielle und Martin näher, denn auch er ist in sie verliebt.

Die beiden leben mit andern zusammen in einem Haus mit betreutem Wohnen. Zu ihren Mitbewohnern und ihrem Betreuer hat Gabrielle ein gutes Verhältnis. Tagsüber arbeitet sie in einem Büro, in der Freizeit geht sie schwimmen, unternimmt Ausflüge mit ihrer Wohngruppe oder singt im Chor, der bald schon in einem Festival auftreten soll. Der Freund ihrer Schwester Sophie ist für ein Entwicklungshilfeprojekt nach Indien gezogen, wohin diese am liebsten nachziehen möchte, wenn sie dadurch nicht Gabrielle im Stich lassen müsste.


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Gabrielle und Martin

Zwei behinderte Menschen sehnen sich nach Liebe, haben Liebeskummer wie du und ich, wie Romeo und Julia.

Während Sophie und der Betreuer im Wohnheim die aufkeimende Liebe und die dazugehörige Sexualität zwischen Gabrielle und Martin ganz natürlich finden und den beiden die Möglichkeit für ein ungestörtes Zusammensein in Aussicht stellen, ist Martins Mutter anderer Meinung. Nach einem Konflikt mit der Mutter geht Martin nicht mehr zu den Chorproben. Gabrielle ist darüber sehr traurig, und auch Martin vermisst sie schmerzlich. Die junge Frau will eine eigene Wohnung und hofft auf eine gemeinsame Zukunft mit Martin.

Nach langem Ringen hat sich Sophie entschieden, nun doch zu ihrem Freund zu fliegen. Schweren Herzens nimmt sie Abschied von ihrer Mutter, die nun an ihrer Stelle mehr Zeit mit Gabrielle verbringen muss. Zusammen gehen diese zum Chorfestival, wo Gabrielle endlich Martin wieder trifft. Die beiden inspizieren mit den übrigen Mitwirkenden die noch leere Bühne und vergnügen sich auf dem Festplatz. Doch als die Zeit zum Auftritt naht, sind sie verschwunden.

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Zwei Schwestern in intensiver Beziehung

Der Film «Gabrielle» schildert das Wachsen der Liebe eines jungen Paares samt seinen Auswirkungen auf die Menschen in ihrer Umwelt.

Die Geschichte handelt vor allem im Zentrum «Les Muses» bei den Chorproben, welche zeigen, welch belebende Wirkung vom Singen ausgeht. Wie meist in grossen Filmen – und um einen solchen handelt es sich hier – kreist die Handlung nicht nur um die Protagonisten, sondern sind diese eingebunden in ein Netz zwischenmenschlicher, helfender wie auch behindernder Beziehungen. Die erste ist Gabrielles Beziehung zu ihrer Schwester Sophie. Das Dilemma, vor dem diese steht, verleiht dem Drama eine zusätzliche, realitätsbezogene Dimension. Komplexer und reicher wird die Geschichte durch die Rolle der Eltern, vor allem der Mütter von Gabrielle und von Martin. Diese wollen für ihre Kinder zwar nur das Beste, auch wenn sie dabei gelegentlich mit den Bedürfnissen der Kinder in den Clinch kommen. Auch diese Einbettung verleiht dem Film eine zusätzliche Ausweitung, Verbindlichkeit und Allgemeinmenschlichkeit.


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Auf der Suche nach Freiheit und Liebe.

Die Regisseurin Louise Archambault erzählt ihre Geschichte mit Empathie und meisterhafter Beherrschung der Filmsprache.

Bis in jedes Detail ist die filmische Form mit authentischen Inhalten gefüllt. Bereits mit dem Spiel der Protagonistin in der Einleitungssequenz im Wasser des Hallenbades gibt die Regisseurin die Tonart an, in welcher sie die Geschichte wahrgenommen haben möchte: als eine polyphone Partitur eines Kammerkonzertes mit vielen Ober- und Untertönen. Dass sie dabei auch noch die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm verwischt, erweist sich als ein Mehrwert ihrer Kunst. «Gabrielle» ist ein gespielter Dokumentarfilm und gleichzeitig ein dokumentarischer Spielfilm. Während des ganzen Films vereinigen sich die Sequenzen, die Szenen, die Bilder und Töne zu einem Kunstwerk, das in Stimmung und Gehalt von grosser Sensibilität und Liebe diesen Menschen gegenüber zeugt.

 

Interview mit Louise Archambault

Wie ist dieses Projekt entstanden?

Am Anfang stand der Wunsch über das Glück zu reden – das Glück derer, die als Aussenseiter der Gesellschaft gelten und gewissermassen «unsichtbar» sind. Auch wollte ich zeigen, welche Kraft diese Menschen aus den Künsten wie der Musik schöpfen können, in diesem Fall besonders durch das Singen im Chor. Ich fand es sehr spannend, eine Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung zu erzählen und dabei zu zeigen, wie sie die Liebe und die Sexualität erleben und wie das Erwachen der Liebe in ihnen plötzlich das Bedürfnis nach Unabhängigkeit, ein Verlangen nach mehr Autonomie, weckt.

Der Auslöser für dieses Projekt war die Sendung «Une famille particulière», die 2004 von Radio-Canada ausgestrahlt wurde. Der Betreuer Jean-Martin Lefebvre-Rivest, der später Inspirationsquelle für die Figur des Laurent werden sollte, hatte es mir so sehr angetan, dass ich ein Treffen mit ihm arrangierte und ihm dabei von meinem Filmprojekt erzählte. Danach sahen wir uns regelmässig: Ich verbrachte viel Zeit in dem betreuten Wohnheim, in dem er arbeitete, um seinen Alltag, wie auch den der Behinderten, aus der Nähe zu erleben. Dabei führte er mich auch in die berühmt- berüchtigten Tanztreffs vom Freitagabend ein, bei denen sich jede Woche rund 200 Erwachsene einfinden, die von irgendeiner Behinderung betroffen sind. Im Übrigen habe ich eben dort, inmitten der üblichen Gewohnheitsgäste, die Karaoke- und die Tanzszene gedreht. Zu den grossen Qualitäten des Betreuers Jean-Martin gehört, dass er die Behinderten nicht wie Kinder behandelt. Er versucht vielmehr, ihnen das Rüstzeug zu vermitteln, um ihr Potenzial besser ausschöpfen und sich leichter in die Gesellschaft integrieren zu können. So legt er beispielsweise viel Wert darauf, Ausflüge ausserhalb der Stadt zu organisieren und jedem Heimbewohner einen bestimmten Verantwortungsbereich im Alltag zuzuweisen, was zur Vermeidung von Krisen und Panik beiträgt. Kurzum, ich hatte einfach Lust, von dieser so speziellen Wirklichkeit, in der Jean-Martin und seine Schützlinge leben, zu berichten.

Wie sind Sie auf Gabrielle und den Chor Les Muses gekommen, den man im Film sehen kann?

Ich hatte ein Theaterstück des Ensembles Joe Jack et John gesehen, in dem unter anderem Michael Nimbley spielte, der auch im Film die Rolle eines Heimbewohners innehat. Ich fand heraus, dass er die Einrichtung Les Muses besuchte, ein Zentrum für Bühnenkünste, das Menschen mit einer geistigen Behinderung eine professionelle Ausbildung in den Fächern Gesang, Tanz und Schauspiel anbietet. Die Schulung zielt darauf ab, aus ihnen Profis zu machen, ohne ihre Grenzen leugnen zu wollen. Ich war über ein Jahr lang regelmässiger Gast in dieser Einrichtung und liess mich für die Endfassung meines Drehbuchs von meinen dortigen Beobachtungen leiten. Ich war absolut hingerissen von dem, was ich dort erlebte.

Diese Begegnungen verhalfen mir dazu, eine klarere Vorstellung von dem Film zu bekommen, den ich drehen wollte. Die Leute, die ich dort traf, zeichneten sich nicht nur durch eine enorme Willenskraft aus, sondern auch dadurch, dass sie ganz im Hier und Jetzt aufgingen. Vor allem aber war ich auf Anhieb dem Charme von Gabrielle Marion-Rivard erlegen: Angesichts ihres strahlenden Wesens, ihres Charismas und ihrer Natürlichkeit übte sie eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus.

War Ihnen sofort klar, dass Sie den Film mit eben diesen Leuten drehen würden?

Ich hatte ständig die Schüler von Les Muses im Kopf, als ich das Drehbuch weiter ausarbeitete. Das hat es mir unter anderem ermöglicht, die Art der Erkrankung zu präzisieren, von der die Hauptfigur betroffen ist: Gabrielle Marion-Rivard leidet am Williams-Beuren-Syndrom, dessen Patienten oft sehr musikalisch veranlagt sind – nicht selten verfügen sie sogar über das absolute Gehör. Die Frage war nur: Würde Gabrielle auch wirklich in der Lage sein, die Hauptrolle auszufüllen, den Film also gewissermassen auf ihren eigenen Schultern zu tragen? Da ihre Paradedisziplin das Singen ist, nicht aber die Schauspielerei, machte ich erst ein paar Proben mit ihr, bei denen sie improvisieren sollte. Ihr war bewusst, dass sie die Rolle vielleicht nicht bekommen würde, aber sie wollte es zumindest versuchen. Und da entfaltete sie eine derartige Strahlkraft, dass sowohl die Produzenten als auch ich selbst zu der Überzeugung gelangten, dass es einer professionellen Darstellerin wohl nie gelingen würde, ihr hinreissendes Naturell mit einer solchen Authentizität zu verkörpern: Die Rolle gehörte einfach Gabrielle!

Danach verbrachten wir viel Zeit mit ihr und den anderen Darstellern, um sie auf die Dreharbeiten vorzubereiten. Ich nahm es in Kauf, dass das Ergebnis nicht ganz perfekt sein würde, sowohl was die schauspielerischen Leistungen als auch die Arbeitsweise betrifft. Mein Instinkt sagte mir, dass ich den Dingen freien Lauf lassen sollte, um die Wahrheit im Verhalten und in den Reaktionen der Figuren ans Licht zu bringen. Nichtsdestotrotz musste auch an der Wirklichkeit ein wenig herumgedoktert werden: Aufgrund ihrer Behinderung hat Gabrielle eine extrovertiertere Ausdrucksweise, was auf der Leinwand leicht aufgesetzt hätte wirken können. Wenn ich sie aber gebeten hätte, sich zurückzunehmen, dann wäre das mit ihrem inneren Wesen nicht zu vereinbaren gewesen. Folglich liess ich sie einfach machen, wobei ich ihr nur gelegentlich Einhalt gebot, und sie wusste das sehr zu schätzen. Das gleiche Problem stellte sich auch bei den anderen Mitgliedern von Les Muses, die das Gros der anderen Chorsänger im Film verkörpern: Würden sie physisch und mental überhaupt in der Lage sein, lange Drehtage über sich ergehen zu lassen? Wie Gabrielle, so fanden wir auch die Chormitglieder absolut einzigartig, charismatisch und vor allem sehr begabt, was das Singen betrifft. Im Rahmen von improvisierten Proben bereiteten wir sie auf die Dreharbeiten vor, wobei auch diese Erfahrungen in die Endfassung des Drehbuchs mit eingeflossen sind. Als ich mit dem Schreiben anfing, hätte ich es mir niemals erträumt, dass es mir eines Tages gelingen würde, statt eines Films über diese Menschen einen Film mit ihnen zu drehen.

Ihre Art zu drehen wirkt manchmal geradezu dokumentarisch. Diese Suche nach der Wahrheit, die in der Auswahl der Darsteller – vor allem von Gabrielle für die Titelrolle – und in der Mitwirkung von Robert Charlebois zum Ausdruck kommt, scheint einer der Schlüssel für diesen Film zu sein.

Wir haben viel mit Plansequenzen gearbeitet. Mir ging es vor allem darum, einen intimen und sinnlichen Film zu drehen, der möglichst nahe an die Hauptfiguren Gabrielle und Martin, sowie auch an die Chorsänger, herankommen sollte. Erst am letzten Tag der Dreharbeiten wurde mir das ganze Ausmass des Projekts mitsamt all den Risiken, die es beinhaltete, bewusst.

An verschiedenen Stellen haben wir improvisiert, so zum Beispiel bei der Szene, wo der Sänger Robert Charlebois das Klassenzimmer betritt. Die anderen wussten zwar, dass er irgendwann kommen würde, allerdings nicht zu welcher Tageszeit. Auf diese Weise habe ich ihr Aufeinandertreffen so filmen können, wie es sich in Wirklichkeit zugetragen hat. Die Zuschauer bekommen somit zu sehen, wie sie tatsächlich auf seinen Besuch reagiert haben. Auch Robert hatte gar keine andere Wahl, als sich augenblicklich mit den Schülern zu konfrontieren, statt sich hinter einer Rolle zu verbergen.

War die Mitwirkung von Robert Charlebois im Chor von Les Muses von Anfang an geplant?

Zunächst hielt ich Ausschau nach einem kanadischen oder französischen Sänger, dessen Repertoire eine symbolische Bedeutung für unsere Geschichte haben würde. Als ich dann eines Tages Anthony Dolbec, einen der Schüler von Les Muses, das Chanson «Ordinaire» singen hörte, war mir sogleich klar, dass das in den Film hineinkommen müsste. Dieses Lied (ordinaire = gewöhnlich) bekommt ja gerade dadurch, dass es von unserem Chor und speziell von Martin, der wie ein «normaler» Mensch leben will, gesungen wird, einen ganz besonderen Sinn. Was das Chanson «Lindberg» betrifft, so war das die logische Fortsetzung von «Ordinaire» und bestens geeignet, um die lyrischen Momente gegen Ende des Films zu untermalen. Nachdem wir uns erst einmal für diese zwei Lieder entschieden hatten, dachten wir uns, dass die leibhaftige Präsenz von Robert Charlebois dem ganzen Projekt noch die Krone aufsetzen würde.

Nur wenige der Chorsänger werden von professionellen Darstellern gespielt. Einer davon ist Alexandre Landry, der die Figur des Martin, des Geliebten von Gabrielle, verkörpert. Warum haben Sie sich für ihn entschieden?

Für diese Rolle hatte ich zunächst mehrere Darsteller mit einer geistigen Behinderung getestet. Zwar waren sie schauspielerisch oft sehr begabt, doch spätestens, wenn es um die Liebe ging, haperte es in aller Regel: Da sie gar nicht anders können, als stets wahrhaftig zu sein, fiel es ihnen äusserst schwer, in Gefühlsangelegenheiten etwas vorzutäuschen. Indem ich mich letztlich für einen Profi entschied, stellte ich Gabrielle ausserdem einen Partner zur Seite, auf den sie sich stützen konnte. Alexandre Landry widmete sich dem Projekt mit ungeheurer Hingabe. Noch bevor er den Zuschlag für die Rolle erhielt, hatte er sich zu Les Muses begeben und sich dort mühelos in die Gruppe integriert. An besagtem Tag wollte ich ihn Gabrielle vorstellen, um zu sehen, ob die Chemie zwischen ihnen stimmte, und da ertappte ich Alexandre dabei, wie er mitten unter den Chormitgliedern stand und eifrig mitsang, ganz so, als hätte er immer schon zum Chor dazugehört. Die anderen Sänger waren allesamt sofort Alexandres Charme erlegen. In der Folge widmete er sich mit grösster Hingabe seiner Rolle, ohne sich je in den Vordergrund schieben zu wollen. Er nahm Gesangsunterricht und verbrachte viel Zeit mit Gabrielle. Auch auf dem Set behandelte er sie äusserst zuvorkommend und schenkte ihr all seine Aufmerksamkeit. Zwischen den beiden hat es also wirklich in gewisser Weise "gefunkt": Sie hatten einfach Spass zusammen. Ich hätte mir keinen besseren Liebhaber für meine Hauptfigur erträumen können!

Wie haben Sie bei den Liebesszenen Regie geführt?

Mehrere Personen, die geistig behinderte Menschen in der Familie haben, teilten mir ihre Erfahrungen bezüglich der Sexualität ihrer Angehörigen mit. Bei praktisch allen Betroffenen waren eine naive Unschuld sowie das Fehlen jeglichen Schamgefühls der Normalfall. Ich gab das Drehbuch auch der Mutter von Gabrielle zu lesen, die früher professionelle Violinistin war und heute als Psychotherapeutin arbeitet. Sie machte verschiedene Anmerkungen dazu und sprach mit mir über das Verhältnis Gabrielles zu ihrem Intimleben.

Die geistig Behinderten, die ich gefilmt habe, zeichnen sich durch eine ungefilterte Wahrnehmung aus. Sie haben einen anderen Blick auf die Welt als wir. Bei den Dreharbeiten sollte sich zu meiner Überraschung zeigen, dass die Liebesszenen für Gabrielle im Grunde fast die leichteste Übung waren – viel einfacher jedenfalls, als sich beispielsweise von einem Ort zu einem anderen zu bewegen und unterwegs nach irgendeinem Gegenstand zu greifen. Bei derartigen Szenen waren oft zehn Takes notwendig, was an Gabrielles Koordinationsschwierigkeiten liegt. Wenn es hingegen darum ging, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, dann hätte man meinen können, dass sie ihr ganzes Leben nie etwas anderes getan hat. Gabrielle verfügt über eine hohe emotionale Intelligenz; auf diesem Gebiet wollte ich sie folglich in keinerlei Weise belehren. Und weil Alexandre schon viele intime Szenen auf der Bühne gespielt hatte, war auch seine Anwesenheit für sie eine grosse Hilfe. Er hatte viel Respekt vor Gabrielle und wollte, dass sie sich frei fühlt. Mir war meinerseits sehr daran gelegen, dass sie sich in die einzelnen Situationen gut hineinversetzen konnte. Vor allem aber wollte ich sie zu nichts zwingen. Bei den Dreharbeiten nahmen wir auf ihre Grenzen Rücksicht und zogen regelmässig ihre Mutter zurate. Die Idee war ja vor allem die, einen Film über das Verlangen und die Liebe zu drehen, wobei der emotionale und sinnliche Aspekt im Vordergrund stehen sollte, nicht jedoch die blosse Sexualität.

Welche Botschaft wollen Sie mit diesem Film vermitteln?

Ich wollte über das Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie von geistig behinderten Menschen reden, deren Alltag im Wesentlichen von ihren Familien und Betreuern bestimmt wird. Mein Wunsch war es, die Zuschauer an ihrer Lebenswirklichkeit teilhaben zu lassen, damit sie einen Eindruck von ihrer Charakterstärke bekämen. Vor allem aber wollte ich zeigen, wie sehr ihre Begierden und Emotionen denen von allen anderen Menschen gleichen, kurzum: dass auch sie ganz gewöhnliche menschliche Wesen sind. Ich wollte erreichen, dass wir uns alle in dieser Geschichte irgendwie wiedererkennen würden. Als Ausdrucksmittel für ihre seelischen Bedürfnisse wählte ich unter anderem die Musik und den Chorgesang. Die Musik trägt ja in erheblichem Masse dazu bei, die Herzen zu öffnen und das Verlangen zu lieben und geliebt zu werden anzufachen. Ausserdem hat die Musik – ganz besonders das Singen im Chor – die grossartige Eigenschaft, die Leute miteinander zu verbinden. Sie ist universell und spricht uns in unserem Innersten an. Ich hoffe, dass man davon etwas in diesem Film spürt.

Zum anderen wollte ich auch eine Liebesgeschichte erzählen: Eine Affäre zwischen zwei geistig behinderten Menschen, die den Wunsch haben sich zu lieben, ihre Intimsphäre zu erkunden und sich ohne jeden Zwang einander hinzugeben. Die Liebe und die Sexualität sind ja zwei Themen, die nur selten zur Sprache kommen, wenn es um behinderte Menschen wie Gabrielle und Martin geht. Noch sind dies Tabuthemen. Dabei unterscheiden wir uns doch alle voneinander, nur dass bei manchen Menschen diese Unterschiede schon physisch viel mehr ins Auge fallen. Wir haben es gelernt, unsere Schwachstellen zu verbergen. Im Grunde aber haben wir alle das Bedürfnis, Liebe zu erfahren.

Das Williams-Beuren-Syndrom und Musikalität

Was ist das Williams-Beuren-Syndrom (WBS)?

Menschen mit dem Williams-Beuren-Syndrom (WBS) haben einen seltenen genetischen Defekt auf einem Abschnitt vom Chromosom 7. Insgesamt sind ca. 28 Gene betroffen, unter anderem das «Elastin»-Gen, welches mitverantwortlich für die Bildung von Bindegewebe ist. Infolgedessen weisen Menschen mit WBS ein charakteristisches Äusseres auf mit aufgeworfenen Lippen, kugeliger Nasenspitze, kleinen Zähnen mit weiten Zahnlücken und häufig gekräuselten Haaren. Oftmals (aber nicht immer) leiden sie unter Kleinwuchs, Bluthochdruck, häufigen Atemwegs- und Mittelohrentzündungen, Herzfehlern und Fehlbildungen an den grossen Hauptschlagadern sowie Diabetes. Bei den meisten WBS-Betroffenen entstand das Syndrom aufgrund einer Spontanmutation, wurde also nicht von einem Elternteil vererbt. Ist jedoch ein Elternteil betroffen, liegt das Weitergaberisiko bei 50 %.

Kognitives Profil

Kognitiv weisen Menschen mit WBS ein charakteristisches Profil von Stärken und Schwächen auf. Bei genereller Intelligenzminderung unterschiedlichen Ausmasses und motorischen Einschränkungen liegen die besonderen Stärken vor allem im sozialen, sprachlichen und musikalischen Bereich.

Menschen mit WBS sind anderen (auch Fremden) gegenüber sehr zugewandt und freundlich, erzählen gerne und benutzen häufig ein ausgefallenes Vokabular (z. B. würden sie bei der Aufforderung, 10 Tiere aufzuzählen, Tiere wie „Säbelzahntiger, Yak“ etc. nennen).
Aussergewöhnliche Sensibilität für Klänge und Musik bei Menschen mit WBS.

Zu ihren Besonderheiten zählt zudem eine bereits in den ersten Lebensjahren ausgeprägte starke Sensibilität für unterschiedliche Geräusche und Klänge. Zunächst kann sich diese «auditorische Hypersensibilität» in Form von Angst vor bestimmten Geräuschen zeigen (z. B. Staubsauger, Rasenmäher, Sirenen, Bohrmaschinen). Ungefähr mit dem Eintreten ins Schulalter verändert sich die Geräuschempfindlichkeit dahingehend, dass häufig ein besonderes Interesse und zum Teil auch eine grosse Vorliebe für bestimmte Geräusche entwickelt wird.
Man kann nun darüber streiten, ob Menschen mit WBS im klassischen Sinne besonders „musikalisch" sind (die üblicherweise für Musiker ausgelegten Standardtests setzen Notenkenntnisse und Konzentrationsfähigkeit voraus, sodass sich diese Tests bei WBS-Betroffenen meist nicht anwenden lassen). Doch eines ist unumstritten: Kinder und Erwachsene mit WBS haben eine ganz besondere Liebe zur Musik! Insbesondere stark rhythmusbetonte Musikrichtungen (Schlager, Volksmusik, Rock) begeistern ältere und auch schon ganz junge Menschen mit WBS. Aufgrund dieses natürlichen Interesses an Musik fangen WBS-Kinder oft schon im Kindergartenalter an, ein Instrument zu erlernen; besonders beliebt sind Keyboard und Schlagzeug. Sie stimmen sofort mit ein, wenn gesungen wird, kennen viele Lieder auswendig (häufig in mehreren Sprachen), trommeln gern und bleiben wie gebannt stehen, wenn eine Musikkapelle durch die Stadt marschiert. Auch wenn das Erlernen eines Musikinstrumentes aufgrund von motorischen und kognitiven Defiziten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann, spielt Musik für Menschen mit WBS eine ganz zentrale Rolle.

Neurobiologische Grundlage der Musikalität beim WBS

Neurowissenschaftler fanden mittels MRT-Untersuchungen heraus, dass bei WBS-Betroffenen die so genannte. «primäre Hörrinde», also der Bereich des Gehirns, in dem auditorische Reize als Erstes verarbeitet werden, im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kindern deutlich vergrössert ist – und zwar in vergleichbarer Grösse wie bei Profimusikern. Wenn man berücksichtigt, dass das Gesamt-Gehirnvolumen bei WBS um ca. 20 % reduziert ist, ist die relative Grösse der „Hörrinde“ sogar noch beeindruckender. Dies könnte der Grund für die scheinbar angeborene, starke Affinität zu Musik und Klängen sein.

Dr. med. Martina Wengenroth
Neuroradiologie Universität Heidelberg und Radiologie
Universität München

Über das Centre d’art de la scène les muses

1997 wurde das Zentrum Les Muses von der Tänzerin Cindy Schwartz gegründet. Les Muses ist eine einzigartige Institution, die eine professionelle Ausbildung in Schauspiel, Gesang und Tanz für Menschen mit Behinderung anbietet. Jahr für Jahr findet das Zentrum neue Wege, um sich mit der Kunst- und Kulturszene Montreals zu vernetzen und seinen Schülern die Möglichkeit zu bieten, bei professionellen Produktionen mitzuwirken.

Regie: Louise Archambault
Produktionsjahr: 2013
Länge: 102
Verleih: Xenix