Glauser

«Wer ist Glauser?» «Nie gehört.» «Und Wachtmeister Studer?» «Ist mir bekannt.»

Glauser und Studer gehören zusammen. Vordergründig: Friedrich Glauser ist der Erfinder des Wachtmeisters Studer! Hintergründig: Glauser hat in der Figur des Studer für sich eine (positive) Vaterfigur geschaffen, die er im Leben nie erlebt hatte. Wachtmeister Studer ist freundlich, sorgend, kann Fehler machen und auch eingestehen; Glausers leiblicher Vater war übermächtig, herrschsüchtig und hatte den kleinen Friedrich stets unterdrückt. Diese Suche nach dem Vater – ergänzt mit der Trauer für seine allzu früh verstorbene Mutter – durchzieht wie ein roter Faden den Dokumentarfilm «Glauser» von Christoph Kühn.

Ein bewegtes und bewegendes Leben

Irrenhaus Münsingen 1934: Ruhig ist die Nacht und schwarz. Friedrich Glauser kommt aus dem Grübeln nicht heraus. Der Fremdenlegionär, Dadaist, Schriftsteller und Morphinist zieht Bilanz seines verpfuschten Lebens. Erinnerungsblitze rufen die Kindheit in Wien wach, den Vater, der ihn nie verstand, die Mutter, die starb, als er vier Jahre alt war und für die seine Liebe geblieben ist. Wie schillernde Blasen tauchen quälende Momente von damals auf, wachsen und wollen nie zerplatzen. Sie führen ihn an die Wurzeln seines Leidens. Das Schreiben darüber wird zur Magie und bildet die Brücke zwischen der Anstalt und der Welt draussen. Es entstehen Novellen und Kriminalromane. In der Person des «Wachtmeister Studer» entwirft er eine positive Vaterfigur, die ihn berühmt machen sollte, sein Suchen und Fliehen jedoch nicht beendete. Als Glauser in die Freiheit entlassen wird, flieht er aus der Schweiz und geht so weit weg, wie er nur kann. Zusammen mit seiner Freundin Berthe Bendel, die als ehemalige Pflegerin im Irrenhaus Münsingen mit ihm nach Frankreich und in die erhoffte Freiheit flieht, führt er ein rastloses Dasein zwischen dem Atlantik und dem Mittelmeer. Doch wo auch immer er ein neues Leben anzufangen versucht, überall holt ihn die dunkle Periode der eigenen Vergangenheit ein. Er stirbt 42-jährig, einen Tag vor der geplanten Hochzeit mit Berthe.

Glauser in Frankreich, glücklich wie nur selten

Anmerkungen des Regisseurs

Der Glauser in meinem Film hat wenig zu tun mit dem gefeierten Glauser, der als Vater des Schweizer Krimis und Seismograph der helvetischen Befindlichkeit gilt. Der Protagonist von «Glauser» kommt angenehm unschweizerisch daher, an ihm haftet nichts Biederes. Er ist ein grandioser Weltenbummler und zeitloser Fabulierer, der in der literarischen Erfindung eine legitime Weiterführung seiner Existenz sieht und diese Gleichung zum Credo seiner Kreativität macht.

Glausers Leben kommt wie ein einziger grosser Rausch daher und macht aus ihm eine heutige Figur: einen verwundeten Gejagten. Überall ist der Schatten, den die Nacht auf seine Existenz wirft, anzutreffen. Das Dunkel, aus dem er kommt, ist zu mächtig, um davor zu entfliehen. Bei meinem Glauser muss ich unwillkürlich an die fiebrigen Charaktere des Film noir denken, jener Filmgattung, in der sich die verzweifelten Protagonisten tief in die Seele blicken lassen. Und genau wie jene Schwarz-weiss-Helden der 30er- und 40er-Jahre scheitert Glauser nicht an der Umwelt noch an seinem Beruf, sondern er scheitert an sich selber.

Sein inneres Drama erinnert an Ödipus: Wie beim griechischen Helden spielt auch bei Glauser der Vater die Rolle des Feindes und Widersachers, den es zu überwältigen gilt. Und wie in der antiken Tragödie liebt Glauser seine Mutter, mit der er sich auf seine ganz eigene Art vereinigt.

Im Schreiben zu sich und zu einem Vater finden

Glauser über Glauser

1896 geboren in Wien, von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Grossvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat. Volksschule, 3 Klassen Gymnasium in Wien. Dann 3 Jahre Landerziehungsheim Glarisegg. Dann 3 Jahre Collège de Genève. Dort kurz vor der Matura hinausgeschmissen… Kantonale Matura in Zürich. 1 Semester Chemie. Dann Dadaismus. Vater wollte mich internieren lassen und unter Vormundschaft stellen. Flucht nach Genf … 1 Jahr (1919) in Münsingen interniert. Flucht von dort. 1 Jahr Ascona. Verhaftung wegen Mo. [Mo steht für die Droge Morphin, von der Glauser während langer Phasen seines Lebens stark abhängig war.] Rücktransport. 3 Monate Burghölzli (Gegenexpertise, weil Genf mich für schizophren erklärt hatte). 1921– 23 Fremdenlegion. Dann Paris: Plongeur (Tellerwäscher). Belgien: Kohlengruben. Später in Charleroi Krankenwärter. Wieder Mo. Internierung in Belgien. Rücktransport in die Schweiz. 1 Jahr administrativ Witzwil. Nachher 1 Jahr Handlanger in einer Baumschule. Analyse (1 Jahr) … Als Gärtner nach Basel, dann nach Winterthur. In dieser Zeit den Legionsroman geschrieben (1928/1929), 1930/1931 Jahreskurs Gartenbauschule Oeschberg. Juli 1931 Nachanalyse. Januar bis Juli 1932 Paris als ‹freier Schriftsteller› (wie man so schön sagt). Zum Besuch meines Vaters nach Mannheim. Dort wegen falscher Rezepte arrestiert. Rücktransport in die Schweiz. Von Juli 1932 – Mai 1936 interniert. Et puis voilà. Ce n'est pas très beau …

Ausschnitte aus einem Brief Glausers vom 15. Juni 1937 an Josef Halperin

Hannes Benders Zeichnungen: Psychogramme des Autors

Trailer

Ein Film wie ein ästhetischer Tsunami

Der 1955 in Zug geborene Christoph Kühn produziert, nach Schauspielerausbildung bei Ellen Widmann und Filmerausbildung an der HFF München, seit 1983 regelmässig Dokumentarfilme, ausnahmslos Porträts von komplexen Persönlichkeiten. Der Film «Glauser» leuchtet den Menschen Glauser vielschichtig und -perspektivisch aus, was ein abgerundetes und dennoch offenes Porträt des Schriftstellers, Morphiumkonsumenten, Dadaisten, Fremdenlegionärs, Liebhabers und Irrenanstaltinsassen ergibt.

Fachleute aus der Psychiatrie (Max Müller und Martin Borner) und der Schriftstellerei (Hansjörg Schneider und Hardy Ruoss) führen uns mit ihren Statements an den Menschen und Schriftsteller heran. Seine Lebensgefährtin Berthe Bendel steuert ihr Bild von Friedrich, der Biograf Frank Goehre seines von Glauser bei. Alte Fotos skizzieren seinen äusseren Lebensweg. Nachgespielte Szenen führen zu einem Verstehen von innen. Der Grafiker Hannes Binder lässt uns mit zahlreichen, in Schabkarton-Technik verfertigten, feinsinnigen und dennoch unheimlichen Illustrationen in Glausers Welt eintauchen. Carlo Varini, im Tessin geboren, heute in Paris lebend, hat Filmbilder geschaffen, die mehr sind als oberflächliche Seelenlandschaften, sie loten in die Tiefe wie Psychogramme. Bertrand Denzler komponierte eine Musik, welche die visuellen Elemente zusammenhält und sie in eine akustische Gestalt transformiert. Das Hin und Her der Ereignisse auf der visuellen und der auditiven Ebene überkommt uns wie ein Wogen und Branden von Tönen, ein Blitzen und Donnern von Bildern: wie ein ästhetischer Tsunami. Dass diese verschiedenen Disziplinen ein Gesamtkunstwerk schaffen, ist das Verdienst von Christoph Kühn. «Glauser» ist das erschütternde Porträt eines Menschen, der sich ein kurzes Leben lang, von 1896 bis 1938, damit beschäftig hat, der Übermacht eines patriarchalen Vaters zu entfliehen, literarisch gelungen in der Figur des menschenfreundlichen Studer. Seiner früh verstorbenen geliebten Mutter hat er ein Leben lang mit verschiedenen «geliebten» Drogen nachgetrauert, bloss für kurze Zeit in der mütterlichen Berthe einen Ersatz gefunden.

Retrospektiven von Glauser-Filmen in Zürich und Bern

Im Filmpodium Zürich und im Kino Kunstmuseum in Bern laufen im Januar die alten Studer-Filme «Wachtmeister Studer», «Matto regiert» und «Der Chinese». Mehr Infos dazu finden Sie unter http://filmpodium.ch/Programm/ReiheInfo.aspx?t=2&r=48 und www.kinokunstmuseum.ch/agenda.

www.filmcoopi.ch