Human Flow
Ai Weiwei lässt sich in einem Flüchtlingslager die Haare schneiden
Persönliche Vorbemerkung: «Human Flow» ist in meinen Augen ein Muss-Film, auch wenn man ihn kaum ertragen kann, seine Bilder sind nicht immer zu verstehen und zu akzeptieren, doch als Teil unserer Wirklichkeit wahrzunehmen.
Stell dir vor: Die Gefahr kommt, du und deine Familie müssen euer altes Leben plötzlich aufgeben, lassen das ausgebombte Heim zurück und fliehen, gejagt von Unterdrückern. Ihr steckt eure Ersparnisse in eine Reise über Berge, durch Wüsten und übers Meer. Oder aber ihr wartet angespannt, nachdem eure Route an einem Grenzzaun aufhört. Vielleicht findet ihr irgendwo einen Durchlass und werdet als vorläufige Flüchtlinge registriert. Doch jetzt beginnt nochmals ein unendlich langes Warten.
Das sind keine fiktiven Situationen, sondern echte menschliche Schicksale im Kampf ums Überleben von Millionen von Menschen. Politiker haben in den letzten Jahren viel über Flüchtlingen diskutiert, weiter tobt die Debatte um Zahlen, Sicherheit, Verantwortung und die Konstruktion von Mauern, bis die Menschen aus dem Blick verschwinden. Das Wort «Flüchtling» allein schon schafft gelegentlich Distanz.
Eine Familie in der Unendlichkeit der Wüste
Mit Kunst den Sprachlosen eine Sprache geben
Der chinesische Künstler und Dissident Ai Weiwei stellt in seinem kraftvollen Opus magnum «Human Flow» die Menschlichkeit der Flüchtlinge in den Vordergrund, ihre Suche nach den Dingen, die auch wir brauchen: Nahrung, Sicherheit, Schutz und Frieden. Der Filmemacher wird heute gefeiert und ist berühmt, aber auch er wurde einst verfolgt, eingesperrt wegen seiner Rebellion, womit er das Publikum mit der Ungleichheit und Ungerechtigkeit konfrontiert. Mit seinem Film, den er mit 25 Teams und über 200 Mitarbeitern in 32 Ländern gedreht und in Berlin fertiggestellt hat, stellt er der weltweiten Flut aus Angst, Ablehnung, Desinteresse einen Akt trotziger Güte entgegen, mit ästhetisch schönen, menschenwürdigen, von Sequenz zu Sequenz mäandernden Bildern, einer diskreten, anteilnehmenden Musik und einer rhythmisierenden, die Rezeption unterstützenden Montage.
In seiner Karriere versuchte der Künstler stets, gegen Ungerechtigkeit anzukämpfen und vereint dabei Kunst und Politik. Mit «Human Flow» erweitert er die Zuständigkeit der Kunst im Leben. «Als Künstler glaube ich immer an die Menschheit», mein er. Interessant scheint mir hier der Vergleich mit der Vorstellung von Kunst, wie sie im Kapitalismus weltweit vorherrscht und im aktuellen Film «The Square» von Ruben Östlund kritisiert wird. Eine Produzentin des Films meint dazu: «Weiwei war immer daran interessiert, die Strukturen und Mechanismen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung offenzulegen, ob in Kunst, Politik oder Gesellschaft. Seine Kunst schafft Empathie, indem er die Situation der sprachlosen Menge minutiös dokumentiert und mit Kunst den Sprachlosen eine Sprache gibt.»
Menschen, wie Tiere in Käfighaltung
«Ich betrachte diese Krise als meine Krise.»
Der eindringliche und aufwühlende Film ist ein Zeugnis für die Unantastbarkeit der menschlichen Würde. Er wirft Fragen auf, die für dieses Jahrhundert prägend sind: Wird unsere globale Gesellschaft es schaffen, sich von Furcht, Isolation und Eigennutz zu lösen und einen Weg der Offenheit, Freiheit und des Respekts für Menschlichkeit einschlagen? Ai Weiweis Reise in «Human Flow» stellt einen Versuch dar, die Voraussetzungen für Menschlichkeit in unserer Zeit zu verstehen. Der Film fusst auf dem Glauben an den Wert der Menschenrechte. Unsere unsichere Zeit braucht mehr Toleranz, Mitgefühl und Vertrauen. Wenn diese nicht zunimmt, wird die Menschheit wohl mit noch grösseren Krisen konfrontiert, meint der Autor.
Laut Ai Weiwei besteht die aktuelle Krise nicht nur in der überwältigenden Zahl ziellos dahinziehender Flüchtlinge, sondern vielmehr auch in der Versuchung, sich von den Anforderungen abzuwenden, die diese Situation uns stellt. Er brach deshalb persönlich zu dieser Reise auf, um am Alltag der Menschen teilzuhaben, die weltweit vor dem Chaos fliehen. Das Resultat ist eine cineastische Erfahrung von breiter Dimension und intimer Anmutung. Sie vermischt Poesie mit Fakten, Humor mit Drama, karge Schroffheit mit überwältigender Schönheit. Die Filmreise ermöglicht uns, mit persönlichen Erfahrungen einzutauchen, dass wir nachempfinden, was es heisst, ein Leben als Flüchtling zu leben. Auf diese Weise vermögen wir darüber nachzudenken, was wir unseren Mitmenschen schuldig sind.
«Ich betrachte diese Krise als meine Krise», meint Ai Weiwei, «die Menschen, die in ihren Booten ankommen, sind meine Familie. Sie könnten meine Kinder sein, meine Eltern, meine Brüder. Ich sehe zwischen ihnen und mir keinen Unterschied. Wir mögen komplett verschiedene Sprachen sprechen und ganz anderen Glaubenssystemen anhängen, aber ich verstehe sie. Wie ich fürchten sie sich vor der Kälte, mögen sie es nicht im Regen zu stehen oder zu hungern. Als menschliches Wesen glaube ich, dass wir jede Krise oder Notlage, die andere Menschen erleben, so betrachten sollten, als wäre es unsere eigene.»
Auch auf der Flucht sind es Menschen, die ihre Würde haben
Grosses Kino, das Anteilnahme bezweckt
Nach Ansicht der ausführenden Produzentin, öffnet der Film Türen in uns, mit der Hoffnung, dass Türen auch nach aussen sich öffnen. «Der Film ist grosses Kino. Wenn du ihn mit Publikum siehst, dann spürst du die Verbundenheit mit anderen Zuschauern und den Menschen auf der Leinwand. Du kommst dir so vor, als würdest du selbst durch den Schlamm marschieren oder in einem Camp warten. Das ist eindrucksvoll und bewegend. Und dann hast du noch Ai Weiwei dabei. Die Geschichten und die Menschen, denen er unterwegs begegnet, bedeuten ihm viel, was auch wir als Zuschauer miterleben. Er erinnert uns daran, dass wir nicht den Status Quo akzeptieren, sondern verändern müssen.»
«Das ist das grösste Thema unserer Zeit», meint der deutsche Produzent, «die Gründe für diesen Menschenstrom haben sich akkumuliert, jetzt sehen wir ihn greifbar vor uns, wenn sich immer mehr Menschen in Bewegung setzen. Diesem Thema kannst du nicht den Rücken zukehren. Selbst wenn du das versuchst, wird es immer noch da sein und wir müssen uns damit auseinandersetzen. Du kannst den Strom nicht stoppen, indem du Grenzmauern baust. Die Menschen werden kommen, so lange ihr Überleben auf dem Spiel steht. Es ist wichtig, dass wir darüber nachdenken, was wir an ihrer Stelle tun würden.»
Ai Weiwei, mit den Menschen auf dem Weg
«Wir waren schon immer eine wandernde Spezies.»
Fast jeden Quadratzentimeter des Globus durchstreiften wir und hatten uns überall Behausungen erschaffen, wo wir ein gutes Leben zu führen hofften. Wir entwickelten stolze Traditionen der Gastfreundschaft, um erwartete Besuche willkommen zu heissen. In jüngster Vergangenheit aber wurde die Geschichte von einer anderen Art der Migration geprägt: von Männern, Frauen und Kindern, die keine andere Wahl haben, als wegzugehen oder davonzulaufen, wenn Bomben hochgehen, wenn das Essen nicht reicht, wenn Mächte der Repression das Leben bedrohen. Daraus entwickelte sich eine der grossen moralischen Bewährungsproben unserer Gesellschaft: die nahezu 66 Millionen Flüchtlinge wegen Krieg, Verfolgung, Klimawandel oder Armut.
Gelegentlich mag der Zuschauer in «Human Flow» die Orientierung verlieren, weil er nicht mehr weiss, in welchem der Länder oder Camps er sich gerade befindet. Doch genau diese Wahrnehmung ist wichtig. Die Farben, das Klima und das Essen mögen in jedem Land, jedem Camp und jeder Gemeinschaft unterschiedlich sein, der Film aber orientiert sich am Gemeinsamen der individuellen Erfahrungen. «Letztlich scheint es so, als würde dieser Menschenstrom aus einer grossen weltweiten Flüchtlingsgemeinde bestehen», meint der ausführende Produzent des Films.
Regie: Ai Weiwei, Produktion: 2016, Länge: 140 min, Verleih: Elite-Ascot